Alle, die fortgehen

Durch die Glastür aufs Rollfeld
Durch die Bahnhofssperre
Die sich umdrehen winken
Deren Gestalten
Langsam undeutlich werden
Alle sind du.

Du stehst bei mir
Wendest dich ab gehst fort
Wirst kleiner und kleiner
Seit wann
Seit dein Tod mir am Hals hing
Mir die Kehle zudrückte
Stehst du immer wieder bei mir
Wendest dich ab gehst fort
Den Bahnsteig entlang
Rollfeldüber
Wirst kleiner und kleiner
Stehst da
Wendest dich ab.

Marie Luise Kaschnitz

"Der Spiegel der eigenen Persönlichkeit

sind ja die Menschen, von denen man umgeben ist"


(aus einem Brief von Florian)

Florian Gérard

Noch immer fällt es schwer, aus Florians kurzem Leben zu erzählen. Viel gäbe es zu schreiben. Ich möchte mich hier auf die letzten Jahre beschränken.

Florian lebte seit 1996 in Irland. Zunächst und mit großer Begeisterung und Hingabe im Süden Irlands in  Camphill, in einer Lebensgemeinschaft von sog. behinderten und nicht-behinderten Menschen. Es sollten zunächst nur 15 Monate sein – sein Zivildienst - aber dann verliebte er sich in dieses Land, in seine Menschen, in seine "specials" und verlängerte seinen Aufenthalt wieder und wieder.

Viele Briefe erzählen sein Leben in dieser Zeit, ein Leben, das so reich und erfüllt war, ein Leben, an dem er wuchs und ein Leben um das er sich, wie er in einem Brief schrieb, manchmal selbst beneidete.

Florian in Camphill

Wir verfolgten seinen Weg mit großer Liebe und Anteilnahme, seine Begeisterung war ansteckend und niemand wunderte sich, als er beschloß, in Irland zu bleiben und dort zu studieren. Er verliebte sich in Eimear und mit ihr zog er nach Dublin und begann sein Psychologie-Studium. Wieder waren wir erstaunt über seine Hingabe an diese geistige Betätigung, die er irgendwann sehr vermißt hatte. Er war ein unglaublich motivierter Student, wie uns seine Professoren später erzählten, er war der beste Student in seinem Semester.

Florian pflegte aber auch seine Wurzeln hier in Berlin, kam immer wieder, wenn auch meist kurz, um die Beziehung zu uns und zu seinen Freunden nicht zu verlieren. Ich war so stolz auf ihn, meinen großen, wunderbaren Sohn in Irland! Wir besuchten ihn und bereisten "sein Land", auf das er so stolz war; seine beiden besten Freunde begleiteten ihn in Camphill sogar für eine Weile und genossen mit ihm dieses unbeschwerte, schöne Leben auf dem irischen Land.

Nein, keine graue Wolke war am Himmel zu erkennen. Florian`s Leben war gut, es war erfüllt und es war glücklich.

Im Sommer besuchte er uns, wir verbrachten mit Eimear und ihm zwei wunderbare, unbeschwerte Wochen. Er war gereift, man spürte, wie gut er sein Leben in der Hand hatte, wieviel Freude und wie viele Momente des Glücks er erlebte. Wir sprachen über seine Zukunft –alles schien gut, ja perfekt...

Florian und Eimear

Florian und Eimear flogen am 26. Juni um 6.55 Uhr zurück nach Dublin. Wir hatten uns schon für Weihnachten verabredet, das erste Weihnachten nach 4 Jahren, das Florian mit uns verbringen wollte. "Wir brauchen uns gar nicht lange zu verabschieden, Mom, wir sehen uns doch so schnell wieder....." Das waren seine Worte auf dem Flughafen, bevor er sich umdrehte und ich ihm nachsah. Ich wünschte mir in diesem Moment, er möge sich noch einmal umschauen – er ging aufrecht, mit Eimear an seiner Seite durch die Sperre.

Dies war mein letzter Blick auf den lebenden Sohn.


Brief von Florian

Montag, 16. Juni 97

Liebe Gabi!

Ich sitze gerade am Schreibtisch in Dungarvan (endlich bin ich wieder einmal am Meer) und schaue in den wunderbaren Abendhimmel über Irland. Die fast untergegangene Sonne strahlt ein paar Wolken an, die sich vereinzelt am rot gefärbten Himmel befinden.

Wie Du siehst haben wir Glück mit dem Wetter, seit heute scheint die Sonne über der grünen Insel. Es ist schon erstaunlich, welch einen Unterschied das Wetter macht. Während der Arbeit kriegt man dies gar nicht so mit.
Aber jetzt in den „Ferien“. Ich bin hier mit Pete und den „specials“ Derek und Martin. Das kleine Ferienhaus, das Camphill zur Verfügung gestellt wurde, ermöglicht solche Ausflüge.
Heute haben wir einen Tagesausflug nach Tramore gemacht. Unterwegs haben wir an verschiedenen Stränden gestoppt und sind ins Wasser gesprungen. Das Meer ist zwar eisig kalt, aber eine angenehme Erfrischung.
Mit Pete verstehe ich mich wirklich total gut und wir hatten schon ein paar nette, ruhige Gespräche miteinander, sofern dies mal möglich ist. Martin „Chatterbox“ läßt einen kaum einmal eine leise, private Minute. Auch während ich jetzt den Brief schreibe, labert er dauernd auf mich ein: „You’re writing a letter to your family in Germany! Are you?“ „Yes, Martin I am.“ – „To your Mum, are you?“ – „Yes, Martin.“ – „To Germany, is it?“ – „Yes, it is“....
Diese Art von Konversation hatten wir bereits zum vierten oder fünften Mal „To Germany?“ – „Yes to Germany“.

Doch bevor ich meine Geduld endgültig verliere geht er in die Küche, um sich eine Birne zu holen. Ruhe. „It’s a nice pear. Isn’t it?“ – „Aaaahhh, f.....off!!!“ .... war mein Gedanke, aber „Yes, Martin, the are very nice!“ und das nennen die hier in Camphill  Ferien????!!!! Nicht für mich jedenfalls!

Nun aber nochmal zurück zu unseren Ferien! Ich habe die Zeit mit Euch wirklich sehr genossen, auch wenn es am Anfang ein wenig schwer für mich war, mich an die neue Situation (Euch in Irland) zu gewöhnen. Ohne Euch für lange Zeit gesehen zu haben, wart Ihr plötzlich in „meinem Irland“. Ihr habt es mir dann ermöglicht, dieses Land, welches ich wirklich sehr, sehr in mein Herz geschlossen habe, zu entdecken. Dafür bin ich Euch sehr dankbar.

Als Ihr/wir zurück in Camphill waren, habe ich plötzlich ganz stark den Kontrast zwischen den zwei Welten gespürt – vom Schloß zum Kuhstall. Ich habe mich in dieser Situation ein wenig überfordert gefühlt, da auf der einen Seite die Verantwortung für Haus, Garten und Farm war, auf der anderen Seite wart Ihr. Berlin mit all seinen Zukunftsfragen war von einem Augenblick auf den anderen wieder so nah, nachdem ich all dies so gut wie möglich verdrängt hatte. Dies ist aber sehr gut, da Ihr mir die Augen geöffnet habt. Es ist aber nicht immer einfach, mit der unangenehmen Wahrheit konfrontiert zu werden.

Ich denke aber, daß es gut ist, wenn ich nächsten Sommer zurück nach Berlin komme und, falls möglich, anfange Psychologie zu studieren. Camphill setzt einem so viele Flausen in den Kopf, daß man irgendwann die Übersicht und die Vernunft verliert. Hier sind all die Querdenker, zu denen ich mich eigentlich nicht zähle, auch wenn ich vieles von ihnen lerne. Ich lerne eine andere Denkensart, muß aber manchmal aufpassen, meine eigene, sofern sie bereits gefestigt sein sollte, nicht zu verlieren. Aber wie läßt sich Melken und Psychologie- oder Jurastudium unter einen Hut bringen?

Das Leben ist für mich einfach so irreal – aber es ist einfach großartig! Manchmal beneide ich mich wirklich selbst um diese Chance. Ich sehe sie als riesiges Geschenk an und mir wird wieder einmal bewußt, daß ich auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurde. Für die Kraft und vor allem das Durchhaltungsvermögen muß ich Dir danken. Von wem soll es sonst kommen?

Manchmal sage ich mir, egal welche Entscheidung ich treffe, mit Dir als Mutter kann eh nichts schief gehen! Und in Fällen, in denen Du mir nicht helfen kannst, gibt es Menschen wie Hanni, deren Wort mir sehr, sehr viel bedeutet. Was berufliche oder „objektive“ Lebenstipps angeht, kann ich mich, glaube ich, weitestgehend auf ihn verlassen. Ihr seid der Anker meines Lebensschiffes. Ich bestimme zwar Weg und Richtung, aber Ihr gebt mir Festigkeit und den Kontakt zum Grund. Ohne Euch würde ich vielleicht in einer unachtsamen Stunde abgetrieben, vom Weg gelenkt werden.

Bitte glaube mir, daß ich diese Tatsache nie vergesse, auch wenn Du es nicht immer fühlst, aber unsere Zeit kommt noch! Versprochen! Nach 19 Jahren festgefahrener Position kann sich dies nicht von heute auf morgen ändern. Vor allem nicht ohne Kontakt und Zeit.

Sicher bin ich mir allerdings darüber, daß ich müde bin und Martin mich auch noch meines letzten Nerves beraubt hat.
Alles Liebe                   

Dein Florian