Gedanken im Jahr Drei
Dein Lachen
Nimm mir das Brot weg, wenn du
es willst, nimmt mir die Luft weg,
aber lass mir dein Lachen
Pablo Neruda
„Von den Gräbern geht Leben aus“... las ich vor kurzem und hielt inne. Der Gedanke fiel in die Zeit, in der ich begann, mir zu überlegen, was ich – im Jahr Drei nach Florians Tod an Beitrag für einen Rundbrief leisten könne und er fiel auf einen Nährboden. Die Gemeinschaft zwischen Toten und Hinterbliebenen, das Gedenken, das Denkmal für unsere Vorausgegangenen.... Themen, die in die Trauer hineingewachsen sind, wie Dornen ins Fleisch. „Von den Gräbern geht Leben aus“... Sie erzählen uns vom Leben dessen, der dort seine letzte Ruhe fand und diese Toten sollen in unser Denken eingehen, nicht verloren gehen, ihr Grab ein Ort sein, an dem sie uns auf besondere Weise nah sind.
Wenn ich den Ort betrete, der meinem geliebten Sohn letzte Ruhestätte ist, dann begrüße ich die Toten. Mit dem Tor, das hinter mir in sein schweres Schloss fällt, lasse ich auch die Stadt mit ihrem Lärm hinter mir und atme tief durch. Längst kenne ich die Namen derer, die an meinem Weg liegen. Ich sehe, wer besucht wurde, wer neue Blumen bekam und ich registriere die vielen, um deren letzte Ruhestätte sich niemand mehr kümmert. Für zwei Gräber habe ich eine Art Patenschaft übernommen. „Nur der trauert wirklich, der an fremden Gräbern weinen kann“...
Sind dies adäquate Gedanken im Jahr Drei nach Florian’s Tod? Ich wundere mich selbst - vielleicht weiche ich gedanklich auf diesen Schauplatz aus, um nicht das Eis zu betreten, unter dem sich der Fluss der Trauer wälzt und unaufhörlich dahinbewegt... Manchmal trägt das Eis und schließt sie ein, dann ist es so dünn, dass ich einbreche und mich mitreißen lasse, darauf achtend, dass die Eisschicht mich nicht umschließt und erdrückt...
Ich bin eine verwaiste Mutter, ich kann sagen was ich will.... Auch dies ein Gedanke im Jahr Drei nach Florians Tod. Ich habe vor nichts mehr angst, ich habe erlebt, was kein Mensch auf diesem Erdboden erleben dürfte: den Verlust meines einzigen Kindes und ich weiß, dass der Tod eines jeden Kind den Tod der Welt bedeutet... Mit Dir starb alles .... und alles geht weiter!
Im Jahr Drei habe ich einen Weg gefunden, die unendliche Trauer, das Grauen, das Leid in mein Leben zu integrieren; ich lebe zwei Leben: Ich lebe eine Normalität, die zu leben ich gezwungen bin. Ich gehe meiner Arbeit nach, ich versorge einen Haushalt, ich pflege Beziehungen zu Menschen, die mich so annehmen, wie ich heute bin. Dennoch ist ihre und meine Normalität eine andere – unvergleichlich – manchmal unüberbrückbar....
Und dann lebe ich mein Leben in Trauer. Dies ist der Teil meines Lebens, in dem ich mich identischer und sicherer fühle... es ist die Fortsetzung meines Lebens mit Florian. Es ist ein Leben, das ich mir nicht gewählt, das ich niemals auch nur einen Moment vorausgeahnt habe, es ist ein Leben, das ich entwerfen musste.... Für dieses Leben gibt es keine Anleitung, keinen Plan, niemand hat uns gelehrt, mit dem Tod unseres Kindes zu leben, niemand hilft uns und letztlich ist der Weg ein unendlich einsamer.
Ich spüre beim Schreiben einen großen Widerstand, einen Zustand festzuschreiben.... ich spüre die aufsteigende Angst, einmal auf etwas zurückzuschauen und festzustellen, dass die Zeit zuviel an Veränderung bewirkt hat.. Ich hasse die Zeit, ich hasse ihr Voranschreiten, wissend, dass sie mich von dem wegführt, was einziger Trost ist: die Erinnerung, die lebendige, wache Erinnerung an meinen Sohn; die Zeit schleift mich hinter sich her, sie lässt sich nicht aufhalten. Nein, sie ist kein Heiler. Die Zeit ordnet, sie sortiert, sie trennt Wichtiges von Unwichtigem, aber sie heilt nicht.
Was hat sich geändert in diesen vergangenen Wochen, Monaten, die Tag für Tag gelebt werden mussten... Weiß jemand, der dieses Schicksal nicht teilt, wie es ist, täglich aufzuwachen und neu realisieren zu müssen, dass man dies Leben nun in der ewigen Abwesenheit des Liebsten zu leben hat? Wie es ist, aus einem Traum zu erwachen, in dem der andere bei einem war, in dem Nähe und Verbundenheit stattfinden konnten - um dann in der Realität anzukommen? Kann sich jemand diesen Schmerz vorstellen?
Nein, niemand kann es und ich habe aufgegeben, es zu erwarten oder auch nur zu hoffen.
„Das Leben geht weiter“...Ja, für die anderen... Jeder kehrt nach einiger Zeit zur Tagesordnung zurück... „Mit diesem Schmerz musst du alleine leben“, schrieb mir eine gute Freundin, die mich lange in der Trauer begleitet hat.. Ja, sie hat Recht, denn sie hat ihr eigenes Leben, sie hat ihre Kinder, sie kann es nicht wissen... ich bin ihr nicht böse für diesen Satz.
Diese Trauer ist mein Leben, höre ich mich sagen, sie wird mich begleiten, bis ich meinen letzten Atemzug mache und eines hat die Zeit nun auch an Mitgefühl mit uns bereit: sie bringt uns mit jedem auslaufenden Tag näher zu unseren Vorausgegangenen!
Mein Lebensplan wurde durchkreuzt, meine innere Welt völlig erschüttert:
Wie oft kann man ein Leben neu entwerfen? Wie kann man damit leben, dass Wünsche nicht unzerstörbar, unsterblich und zeitlos sind, ein Leben nicht immer schöner und besser wird?
Florians Verlust hat mich gelehrt, dieses Leben mit völlig verändertem Blick zu sehen,
Florian ist mein Lehrmeister geworden und ich habe begonnen, meine Lektionen zu lernen:
Träume nicht auf morgen zu verschieben, mutig zu sein, die Zeit zu nutzen und nicht mehr zu vergeuden, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. Ich musste mich von Menschen trennen, die mir in die Welt der Spiritualität nicht folgen konnten und wollten. Ich musste lernen, dass Antworten oft in der Ruhe und der Stille geboren werden, in mir selbst entstehen müssen und nicht von außen kommen.
Ich habe die Liebe zu meinem Mann bewahren können und er seine Liebe zu mir. Wir haben einen gemeinsamen Weg gefunden, Florians Gedenken aufrecht zu erhalten. Wir sprechen viel über ihn, wir beziehen ihn in unseren Alltag ein... Florian lebt mit uns, zwischen uns, unter uns. Wir besuchen seinen „kleinen Garten“ gemeinsam, haben dort eine Bank aufgestellt, die es uns ermöglicht, zu verweilen. Ich besuche sein Grab täglich.
Eine große Bereicherung ist die Homepage, die ich für Florian unterhalte: Inzwischen begleite ich einige Menschen, die, wie ich verwaiste Eltern sind, in ihrer Trauer, ihrem tagtäglichen Leben. Wir sind Freunde im Leid geworden und diese Beziehungen bedeuten mir sehr viel. Hier ist der Ort, an dem Menschen um mich wissen.Hier schreibe ich mir meine Nöte, meine Ängste, meine Wut und meine Träume von der Seele und ich werde verstanden und ich fühle mich aufgehoben.
Ich lese viel und ich glaube an die Unsterblichkeit der Seele und den ewigen Fortbestand der Liebe und ich glaube fest daran, dass ich eines Tages mit Florian wieder verbunden sein werde. Ich glaube daran, dass wir vor unserer Geburt eine Art Blaupause angelegt haben, in der unser Schicksal in seinen Eckpunkten festgelegt ist. Dieser Glaube nimmt mir etwas von meiner Lebensangst. Ich habe meine große Todessehnsucht überwunden, aber ich habe auch keine Angst davor, zu sterben. Der Tod hat seinen Schrecken verloren und so kann ich auch Menschen, die unmittelbar mit ihm konfrontiert sind, eine Hilfe sein.
Ein großes Geschenk in meinem Leben sind die Freunde von Florian, die alle noch immer um uns sind, die schweren Tage mit uns verbringen, sie mit uns gestalten und durchstehen.
Und ein Geschenk sind die wenigen Freunde, die wir aus unserem „vergangenen Leben“ in dieses neue Leben mitnehmen konnten. Mit diesen Freunden verbindet uns eine veränderte Beziehung, die in ihrer Tiefe und ihrer Verbindlichkeit gewachsen ist und somit an Wert für uns alle gewonnen hat. Ich weiß, welch große Herausforderung sie zu bewältigen hatten, wie viel Geduld sie aufbrachten und wie viel Glaube daran, dass wir es schaffen werden, diesem Leben eine neue Hoffnung zu geben, es lohnend zu machen.. dies alleine wäre Florians Wunsch und sein Vermächtnis und das Wissen darum ist die Quelle meiner Kraft und Energie.
„Unser Leben ist ein Roman – nur in Bruchteilen von uns entworfen, erdacht, die meisten Kapitel schreiben wir immer wieder um, Zufälle, Zwangsläufigkeiten machen es notwendig.
Bestimmte Bilder werden wir niemals los, andere werden sich einstellen. Die Seitenzahl bleibt ungewiss, entzieht sich unserem Willen. Am Ende steht aber vielleicht ein gelungenes Werk, das von zerstörtem und wiedergefundenem Glück erzählt, von der Weisheit, die das Unerwartete und auch der Schmerz bereithalten können: Das Leichte ist ohne das Schwere nicht möglich“.... (Lea Berger)
Gabriele Gérard
8.März 2003
Der Jahreswechsel liegt hinter uns. Deutlicher noch als in den beiden letzten Jahren ist mir bewußt geworden, daß diese neue Zeitrechnung eine tiefe innere Bedeutung für mich gewonnen hat: Mein Jahr beginnt am 1. Juli und mein Jahr endet an diesem Tag. Mit Florian's Tod begann eine neue Zeitrechnung und ich konnte es in diesem Jahr physisch spüren. Tage verlieren ihre Wichtigkeit, andere Tage sind Meilensteine in meinem Jahr: Florians Geburtstag, Florians Todestag. An ihnen orientiere ich mich in diesem neuen Leben.. War ein Ereignis kurz vor oder kurz nach dem Todestag, dem Geburtstag?
Als wir auf Florians Grab die Worte legten: "Nichts wird jemals wieder so sein, wie es war", war dies nur eine ferne Ahnung, heute ist es ein tiefes, nicht mehr zu leugnendes Wissen... und Tage wie diese, Weihnachten, Sylvester machen es schmerzlich deutlich.
Ich las ein Interview mit einem Menschen (Erik Weihenmayer), der seit seinem 13. Lebensjahr erblindet ist... Er hat den Mount Everest bestiegen und viele von den ganz hohen Gipfeln dieser Erde
...und gestolpert bin ich über den Satz:...."Man leidet, man muß akzeptieren - und das habe ich gelernt - seit ich blind geworden bin: dass das Leben nicht dazu da ist, leicht zu sein. Es soll aufregend, herausfordernd, lohnend sein - aber einfach ist es nicht..."
Ich dachte an uns Trauernde, weil doch auch wir die Gipfel (der Trauer) erklimmen... und ich weiß, daß man von anderen lernt - von Menschen wie ihm, mit seinem Schicksal.
Das Leben soll lohnend sein, dies ist eine schöne Botschaft. Das ist Aufgabe genug. Ich glaube, dies könnte ich für mich annehmen: lohnend ist anders als sinnvoll... Ich habe in diesen zwei Jahren leidvoll lernen müssen mit der Abwesenheit von SINN zu leben. Vielleicht ist dies eine der schwersten Herauforderungen an Menschen in Trauer. Quälend suchen wir danach, wissend, ihn nicht zu finden. Trauernde sind ein Meer von Suchenden und die vielen Seiten, die ich inzwischen im Internet fand sind ein Hilfeschrei ins Universum.... Aber wer hört uns? Ist es doch für unsere direkte Umwelt scheinbar oft unmöglich, uns zuzuhören...
Und dann sagt er: "Wenn man das erst einmal verstanden hat, wird es auf eine merkwürdige Art doch einfach"....Auch wenn ich nicht sagen würde, es wäre "einfach" geworden, so haben mich diese vielen, unzähligen, mit dem Verlust gelebten Tage doch eines gelehrt: Trauer verändert sich. Trauer hat ihre eigenen Gesetzgebungen, Trauer muß erfahren und durchlebt werden. Zu trauern erfordert Mut und Vertrauen in die selbstheilenden Kräfte, die wir in uns tragen, jeder, denke ich.
Ich erkannte dass man Kraft in der Stille erntet, und dass man gereinigt wird in der Stille.
Unsichtbar ist sie , die Stille, und trotzdem befruchtet sie unser Leben.
In der Stille lauschst du dich hinein bis zur Quelle.
Die Stille erleuchtet unser Wesen.
"Ich gebe mich diesen tiefen Gefühlen von Hilflosigkeit und Traurigkeit immer wieder hin, lasse zu, daß mein Herz bricht. Ich gebe mich hin im Vertrauen an etwas Größeres als mich selbst. Wenn wir dies wagen, werden wir auf eine besondere Weise beschenkt: wir können hinausschauen über unser persönliches Drama und uns wird ein größeres Bild von Ebbe und Flut des Lebens gezeigt. Ich habe eine tiefe Feierlichkeit und Freude erlebt, als ich sehen konnte, wie ich selbst ein Teil bin des natürlichen Zyklus von Veränderung. Transformation und Evolution sind Teil des Lebens.." (Ken Wolkoff "Das Unabänderliche umarmen")
Auch diese Worte haben mich tief berührt, Spuren hinterlassen, wie so viele Dinge, die ich in dieser langen Zeit erfuhr. Menschen, die mir schrieben, Gedichte, Worte, Zeichen der Anteilnahme, für dich ich mich hier an dieser Stelle von ganzem Herzen bedanken möchte.
Foto: Christiane Gérard
Selten ist ein Weg von Anfang bis Ende immer sichtbar
Oft sehen wir nur den nächsten Schritt.
Vielleicht würden wir sonst überwältigt sein von dem, was vor uns liegt.
Unser Kurzsichtigkeit ist auch eine Gnade.
So wird unsere ganze Kraft frei für den nächsten Schritt,
für eine Aufgabe der Stunde und des Tages.
Wir konzentrieren uns auf den Moment, der zu bewältigen ist,
auf den Augenblick, der so viele Möglichkeiten in sich birgt,
auf die Verwandlung des Schweren ins Leichte,
auf das gefüllte Wort und die Bedeutung eines einzigen Blicks.
Und am Ende des Tages, des Jahres,
am Ende eines Lebensabschnitts,
und am Ende des ganzen Lebens
bilden die vielen Schritte einen unnachahmlichen Weg,
der nur unseren Namen tragen konnte.
(Ulrich Schaffer)
Januar 2003 Gabriele Gérard