Gedanken im Jahr Sechs
... und seine Mutter bewahrte all seine Worte in ihrem Herzen...
(Lukas 2)
Sind wir nicht Hüter/innen der Erinnerung geworden? Hüter/innen der Worte, die unauslöschbar in uns ruhen? Mich hat diese Bibelstelle berührt, so wie ich oft denke, dass das Leben und Leiden dieser biblischen Gestalt Maria mir durch den Verlust von Florian nah gekommen ist.
Irland 2005
„Wie geht es dir inzwischen“ fragen mich Menschen und ich überlege nicht mehr, wenn ich antworte: „Es geht mir ganz gut“.. und ich habe nicht mehr dieses Gefühl des „Verrats an meiner Trauer“. Die Trauer ist Teil meines Lebens geworden, sie gehört zu mir – und vielleicht ist gerade dies die Voraussetzung dafür, mich auch dem Leben und den Lebenden besser wieder zuwenden zu können.
Wir haben keine Sprache für die Trauer. „Gut“ heißt für uns etwas anderes als für die, die dieses Leben nicht teilen. Es fehlt nicht nur eine Trauerkultur, es fehlt auch eine Sprache. So habe ich in den Jahren gelernt, mich der Worte zu bedienen, ohne hinter ihnen zu stehen. Soll ich mich erklären? Jedes Mal? Wie viel Kraft würde es kosten... es lohnt nicht. Zugleich bin ich froh, dass ich die Verlegenheit derer nicht mehr spüre, die nicht wussten, ob sie „es“ ansprechen sollten – und auch die, die mich behandelten, als sei Florians Tod so etwas wie eine ansteckende Krankheit, fühlen sich durch diese Worte „entlastet“.
Clive S. Lewis, den ich gerade lese („Über die Trauer“), schreibt: „Vielleicht sollte man Trauernde wie Aussätzige in besonderen Siedlungen isolieren...“)
...“Totschweigen ist wie ein zweites Sterben“
Anja Wiese
Wir machen es unseren Mitmenschen nicht „leicht“, sagt man. Wir sind anspruchsvoll, wir wollen über unsere Vorausgegangenen reden, wir möchten, dass uns zugehört wird; wir haben (bitter) gelernt, Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden und zu trennen. Wir halten uns nicht mehr mit Bagatellen auf....
Zu kurz – haben wir erfahren – ist dieses Leben.
„Carpe Diem“ – nutze den Tag – ist unser Lebensmotto geworden.
“Glaube an all deine Erfahrungen, an den Schmerz, an dein Festhaltenwollen, an dein Loslassenwollen. Du musst den Weg nicht suchen, der Weg legt sich unter deine Füße“....
„Trauer gleicht einem langen Tal, einem gewundenen Tal, wo jede Biegung eine vollkommen neue Landschaft enthüllen mag. Wie schon bemerkt, tut es nicht jede Biegung. Manchmal besteht die Überraschung aus dem Gegenteil; man steht vor genau der gleichen Landschaft, die man kilometerweit hinter sich glaubte. Dann fragt man sich, ob das Tal nicht ein Graben ist, der im Kreis führt. Das ist es aber nicht. Einzelne Abschnitte kehren zwar wieder; ihre Abfolge aber wiederholt sich nicht...“
Ist es das, was man damit meint, dass die „Zeit die Wunden heile“? Ich glaube noch immer, es ist nicht die „Zeit“ an sich. Es sind jedoch Prozesse in der Trauerarbeit, die wir durchlaufen und denen eine gewisse Systematik eigen zu sein scheint.
Die Veränderung (oder besser die Arbeit, denn ich glaube nicht, dass sich die Gefühle „wie von selbst“ verändern, sondern dass es Schwerarbeit ist, die geleistet werden muss), besteht darin, sich wieder auf sich selbst zu besinnen, sich dem Leben zuzuwenden, von dem wir uns zurückgezogen haben.
„Wer bin ich ohne Florian?“ „Was ist jetzt Zukunft?“ „Wohin mit all der Liebe, die unverändert in mir ist?“ So viele Fragen, die ich mir Tausendfach gestellt habe.
Ich habe mich damit abgefunden, dass mein Leben für immer verändert ist. Florians Abwesenheit hat sich über alles gebreitet. Ich habe begonnen, zu verstehen und zu begreifen, dass sich dies niemals mehr ändern wird. Leben mit der ewigen Abwesenheit des geliebten Menschen... die größte und schwerste Herausforderung und sie kostet unendlich viel Kraft. Manchmal ist dies Leben chaotisch, unübersichtlich, beängstigend, dann erkenne ich neue Aufgaben, Herausforderungen, die ich im Glauben daran, dass Florian mich begleitet und mir die nötige Kraft gibt, anpacke.
Florian hat uns Irland „da gelassen“ ... und auch im vergangenen Sommer haben wir unvergessliche Momente in diesem Land erlebt... und die Nähe zu Florian ist nie so groß wie dort.
Ich fühle mich oft sehr alt, viel älter als ich es bin. Ich fühle, wie sehr nicht nur meine Seele, sondern auch mein Körper gelitten hat. Trauer ist nicht nur ein Prozess des Geistes, der ganze Körper ist betroffen. Wir winden uns im Schmerz und alles in uns zieht sich zusammen, unsere Herzen brechen und brechen – und doch scheint eine Gesetzmäßigkeit zu veranlassen, dass sie weiterhin schlagen.
Noch immer ist mir manchmal der Tod näher als das Leben. „Grenzgängerin“ werde ich wohl immer bleiben. Zu groß ist oft die Sehnsucht, Florian nah sein zu können, zu verlockend und dann schrecke ich zurück – und kehre, wie nach einer langen Krankheit, geschunden in mein Leben zurück.
Der Stern am Firmament
deines Herzens
ist ein Bild
für die Sehnsucht,
die dich treibt.
Trau deiner Sehnsucht,
folge ihr
bis an den äußersten Rand
Anselm Grün
Lewis schreibt: „Leute, die sagen, „Es gibt keinen Tod“ oder „Der Tod ist belanglos“, sind schwer zu ertragen. Es gibt den Tod. Und alles, was ist, ist von Belang. Und alles, was geschieht, hat Folgen, und es und sie sind unwiderruflich und unumkehrbar. Ebensogut könnte man sagen, die Geburt sei belanglos. Ich blicke zum Nachthimmel empor. Gibt es etwas Gewisseres, als dass ich in all den ungeheuren Zeiten und Räumen, dürfte ich sie durchforschen, nirgends sein (ihr) Gesicht, seine (ihre) Stimme, seine (ihre) Berührung wiederfände? Er (sie) ist gestorben. Er (sie) ist tot. Ist das Wort so schwer zu lernen?
Ich erinnere mich
meines früheren Lebens
wie eines fremden Gedankens
Ich lebe mit meinem gestorbenen Sohn. Ich lebe dieses neue Leben bewusster, als ich mein Glück „damals“ lebte. Nichts ist selbstverständlich, jeder Tag ein Geschenk Ich lebe abschiedlich! Dies hat mir viel neue Tore des Sehens eröffnet und ich möchte sie nicht missen. Kein Tag ohne Gespräche mit Florian, keine Stunde zu Hause, in der nicht vor seinem Bild die Kerze brennt... Ich höre Musik mit ihm – für ihn. Ich erinnere mich seines liebevollen, klugen Wesens und ich möchte es mir zu eigen machen. Ich schaue die Welt mit seinen Augen an und ich lass ihn durch meine Augen sehen.
Nein, ich erkläre mich nicht mehr. „Es ist was es ist – sagt die Liebe“...
Ich kann heiter, ausgelassen, fröhlich sein – und eine Sekunde später in Tränen ausbrechen. Alles Glück, jede Freude hat diese andere Seite... Es gibt kein ungeteiltes Glück mehr, keine reine Freude. Vielleicht lässt uns dies demütig bleiben und dankbar, diese Momente erleben zu können und zu dürfen. Ich habe mich meinem Schicksal anvertraut!
You are the wind beneath my wings...
„Für jeden ist die Lebenszeit, die ihm zugemessen ist, der kurze Augenblick in dem wird was sein soll“....
Rahner
Berlin, im Januar 2006