Einssein


Im Augenblick, in dem ich sterbe,
will ich versuchen, zu dir
so schnell ich kann zurückzukehren.
Ich verspreche, es dauert nicht lang.
Stimmt es nicht,
dass ich bereits jetzt bei dir bin,
da ich jeden Augenblick sterbe?
Jeden Moment kehre ich zu dir zurück.
Schau nur hin
und fühle meine Anwesenheit.
Wenn du weinen möchtest,
so weine nur.
Und du sollst wissen,
ich weine mit dir.
Die Tränen, die du vergießt,
werden uns beide heilen.
Deine Tränen sind auch meine.
Die Erde, auf der ich heute morgen gehe,
transzendiert die Geschichte.
Frühling und Winter sind beide da in diesem Augenblick.
Das junge und das abgestorbene Blatt sind wirklich eins.
Meine Füße berühren Todlosigkeit,
und meine Füße gehören dir.
Geht jetzt mit mir.
Laß uns eintreten in die Dimension des Einsseins
und den Kirschenbaum im Winter blühen sehen.
Warum sollten wir über den Tod sprechen?
Ich brauche nicht zu sterben,
um wieder mit dir zusammenzusein.

Thich Nhat Hanh

Kein Kinderspiel

Mutter
wie weit darf ich reisen?
Soweit du willst
Wirst du auch nicht weinen
Lass meine Tränen
mein Herz hat Flügel

Anne Steinwart


Florian verließ Deutschland am 14. September 1996. Ich gab ihm an diesem Tag ein kleines Album mit auf diese Reise, die ja nur 15 Monate dauern sollte.... "1000 Gründe um zurückzukommen" und darin steht dies kleine Gedicht... Das Album kam - zusammen mit seinem Sarg - zurück zu mir.
Am 6. Juli 2000 kam der Sarg mit Florian – begleitet von Eimear und ihren Eltern auf dem Flughafen an und am nächsten Tag nächsten Tag wurde Florian, nachdem wir uns noch einmal von ihm verabschieden konnten, unter großer Anteilnahme auf dem „Alten Sankt Mathäus Kirchhof“ in Berlin-Schöneberg beigesetzt.
Unweit seines Grabes liegen die Gebrüder Grimm.

Eimear

Florians Grab

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Das Zimmer meines Sohnes

März 2001

Wenn ich – wie jetzt – schreibe,  sitze ich an meinem Schreibtisch neben dem "Zimmer meines Sohnes". Sein Zimmer  war unser kleines Gästezimmer. Ursprünglich standen hier nur meine alte schöne Couch und eine Kommode. Bei der Winzigkeit des Raumes war dieser  damit ausreichend möbliert. Florian schlief hier, als er uns im Herbst 98 besuchte, bei seinen Aufenthalten im Sommer wohnten Eimear und er in einem kleinen Steinhaus im Garten.

Seit das Gästezimmer das "Zimmer meine Sohnes" ist, steht in einer Ecke ein kleiner abgebeizter Holzschrank. Er  war Florian’s Baby-Schrank, den wir kurz vor seiner Geburt,  vom Sperrmüll auf der Straße holten und liebevoll herrichteten. Es liegt noch heute das Papier auf den Brettern, mit dem ich sie damals ausgeschlagen habe: kleine rote Äpfel oder Tomaten....Ich habe sogar den maschinegeschriebenen Zettel gefunden, den ich damals für Florian's Vater in diesen Schrank geheftet habe, mit der Angabe des Inhaltes des Babykoffers für das Krankenhaus, sollte ich Hals über Kopf entbinden müssen....Er liegt nun unter Florian's Pullovern und Hemden, Socken und Shorts, die aus Irland zurückkamen -  es ist nicht viel, aber es sind SEINE SACHEN in seinem alten Schränkchen. Am Türknauf hängt eine kleine Lederhose. Wir haben sie - als wir mit ihm nach München zogen - von Nachbarn geschenkt bekommen. Er sah so herzalllerliebst aus in dieser bayerischen Tracht...

Ebenfalls an der Tür häng ein Hipbag, das ich ihm  vor Jahren anlässlich einer Griechenlandreise gekauft habe. Er trug es nicht, hat es aber immer mitgeschleppt, vielleicht so  wie früher seine "Schnullertasche", die er als kleiner Junge stets bei sich hatte. Ich hatte sie ihm genäht und mit Kreuzstichen FLO hineingestickt. Zwei Schnuller beherbergte diese kleine Tasche stets – für alle Fälle.... In diesem Hipbag steckt eine Flasche mit seinem Duft: Nightflight... Manchmal, wenn ich dort sitze, besprühe ich meine Hand und wenn ich die Augen schließe, dann kommen mit diesen Duft die Erinnerungen....Ja, Florian liebte es, gut zu riechen...

Zwischen diesem kleinen Schrank, auf dem ein getrockneter Strauß Hortensien und ein Boot stehen, hängt an der Wand in einem breiten Holzrahmen die Kette, die Florian trug, als er starb. Es ist ein Lederband mit einem silbernen Anhänger, der ein keltisches Symbol darstellt. Ein Geschenk von Eimear, das sie mir - zusammen mit seiner Uhr gab. Manchmal nehme ich das Band von der Wand und trage es für einen Moment: Florian hatte es um seinen Hals, als er ging. Beides ist im Protokoll des Krankenhauses aufgelistet als sein Eigentum, das  an Eimear ausgehändigt wurde.  Es sind dies kleine Kostbarkeiten, die mich immer begleiten werden.... kleine, unendlich wertvolle Erinnerungen, meine Schätze!

Florians Zimmer

Für die Bücher, die CDs, Cassetten, Fotos haben wir ein Regal aufgestellt, das fast bis zur Decke reicht. Ich habe viele kleine Schachteln gekauft und verwahre alles darin. In einer sind die Schleifen der Blumen und Gebinde, die auf seinem Grab lagen. Ich habe sie alle aufgehoben. „Shall I compare Thee“„ von Eimear, „your little princess“ und  „Nichts wird wieder so sein, wie es war“, von uns. Abschiedsgrüße aus Irland, Abschiedsgrüße von Freunden und Verwandten. 

In einem großen schönen Karton liegt Kinderkleidung, Babysachen, von denen ich mich nie trennen wollte und konnte. Ich wollte sie ihm geben, wenn er Vater wird, sie sollte von seinen Kindern weiter getragen werden. Manchmal nehme ich sie in die Hand und lasse die Bilder in mir entstehen... Klein Florian. Es gut, zu spüren, dass die Erinnerung noch nicht verblassen, ganz lebendig ist er in mir, dieser wunderhübsche kleine Junge mit seinen blonden Locken, die geradezu zum Streicheln einluden... Er gewöhnte sich daran, dass Menschen seine Locken bewunderten, mit der Hand über seinen Kopf fuhren. Er behielt diese wunderschönen langen Haare..... 

Als er dort lag, am 7. Juli 2000 in seinem meerblauen Sarg und ich ihn zum letzten mal berührte, streichelte ich diese Haare und sie waren das einzig lebendige an ihm.... Dieser ewig tote Teil unseres Körpers bleibt nach dem Tod am lebendigsten.... 

Unsere alte kleine Anlage wurde wieder aufgestellt und hier, in Florian's Zimmer höre ich – während bei ihm oder hier am PC sitze - die Musik aus Irland, die Musik, die unser Leben in den letzten Jahren begleitet hat, die CD, die ich für Florian zu seinem 24. Geburtstag, dem ersten Geburtstag, den wir begehen mußten, erstellt habe, unsere Musik, meine Musik! 

Ein kleines Foto von Florian mit lachenden Gesicht steht neben dem Foto meines Vaters, der 1989 starb. Das Foto meines Vaters ist an einem Strand aufgenommen, es zeigt ihn entspannt und ebenfalls lachend. Beide Fotos zeigen eine große Ähnlichkeit, die Florian mit zunehmendem Alter mit seinem geliebten Opa bekam.  Wenn ich die Fotos betrachte, fällt mir eine Satz ein von Seneca, an den ich gerne glauben möchte. 

„In der Ewigkeit können sie sich- dein Vater und dein Sohn - frei auf unendlichen Gebieten  bewegen; kein Meer hindert sie, keiner Bergeshöhe, kein tiefeingeschnittenes Tal, nicht die Sandbänke unserer Furten. Überall sind ebene Pfade, leicht gehen sie ineinander über und führen von einem Stern zum anderen....“ 

Ein Engel steht zwischen diesen beiden Fotos und breitet seine Flügel über sie aus. 

Auf der Couch, die meist bedeckt ist mit Büchern, mit Briefen und Karten, mit Zeitungsausschnitten und emails,  liegen zwei Teddies. Einer trägt einen  Pullover mit der Aufschrift Ireland.. Florian hat ihn mir als Geschenk mitgebracht, zu diesen Abschiedstagen, die wir hatten, bevor er gehen mußte... Ein irischer Teddy mit einer schiefen, spitzen Nase. 

Der andere Teddy hat einen Namen und heißt Bewee. Er war mein Tröster, als Florian nach Irland ging. Wenige Tage nach seiner Abreise ging ich mit meinen Mann über einen Markt. Wie so oft  in diesen Tagen liefen meine Tränen und  meine Gedanken waren nie dort, wo ich war, sie flogen  nach Irland, Florian hinterher. Wir standen vor einem Stand mit Kuscheltieren und dort lag ein Bär, einer, der an Pu erinnerte, mit einer rotkarierten Latzhose. Mein Mann  drückte ihn mir in die Hand und ich legte ihn tagelang kaum zur Seite.

Seinen Namen erhielt er, nachdem Florian mir am Telefon erzählte, dass einer seiner „special people“, der seinen Namen nicht aussprechen konnte, ihn Beewee nennt. Beewee wurde mein Kosename für Florian in den Jahren in Irland... 

Auch Florian hatte einen Teddy, einen, den ich selbst gebastelt habe und der mir wunderschön gelungen war, mit einem dunklen, samtigen Fell und einem lieben Gesicht. Am Vorabend seiner Abreise steckt ich ihm diesen Teddy,  fast ein wenig verschämt – ganz zum Schluß noch in den gepackten Koffer ... „Du brauchst doch einen Beschützer in Irland“, habe ich entschuldigend gesagt. Über den Verbleib dieses Abschiedsgeschenkes in Irland habe ich mich nie erkundigt, ich wollte Florian nicht in Verlegenheit bringen, falls er nicht mehr existieren sollte..... 

Dort in seinem meerblauen Sarg, da lag dieser Teddy zu seinen Füßen. Eimear hatte ihn ihm,  da er immer neben ihm  in seinem Bett gelegen hatte, wie sie mir erzählte, mitgegeben.....Ich legte ihn neben seinen Kopf, dicht zu ihm, damit er ihn wärmt und ihm etwas erzählen kann auf der langen Reise, die die beiden nun zusammen antraten..... 

Aber zurück zu seinem Zimmer: an der Wand hängen meine beiden Lieblingsfotos von ihm, die ich auf unserer letzten Reise mit ihm in Irland aufgenommen habe. das typischste  Foto, das es von Florian geben kann. Er schaut direkt in die Kamera mit diesem offenen Blick aus seinen wunderschönen graugrünen Augen. Florian hat diesen Blick, der eigentlich nur Kindern zu eigen ist,  niemals verloren.  Manchmal hatte ich angst, dieser Blick würde ihn schutzlos sein lassen, aber er war einfach der Ausdruck einer großen Aufrichtigkeit und Offenheit  und, die Florian’s Person ausmachte.

Das  darüber hängenden Foto zeigt sein Gesicht im Profil, sein Blick ist in die Ferne gerichtet. Auch dieser Blick ist mir sehr vertraut...Manchmal träumte er mit offenen Augen und ich rief ihn in die Realität zurück. Dann strahlte er dieses unvergleichliche Strahlen, das nur er besaß. 

Beide Fotos sind stark  vergrößert, fast entsprechen sie der Größe seines Gesichtes. Täglich stehe ich davor, halte dem Blick seiner Augen stand und oft lese ich in diesem Blick. Manchmal schauen diese Augen ein wenig fragend, manchmal sind sie einfach voller Zärtlichkeit und Liebe und manchmal kehren sie sich ein wenig nach innen.... Sie sind immer ein Spiegel meiner Selbst!  Zärtlich streichle ich sein Gesicht, jeden Abend, bevor ich zu Bett gehe. Meist werfe ich noch einen Blick ins Internet und dann lösche ich die Kerzen im „Zimmer meines Sohnes“ und schaue in diese Augen, die so tief, so schön, so sanft und klug sind und  mein Herz ist voller Liebe! 

Unter diesen Fotos steht ein kleiner grüner Tisch. Es war der Couchtisch der Wohnung, in der Florian und ich gemeinsam lebten. Lange Zeit haben wir an diesem kleinen Tisch täglich  Kaffee getrunken, wenn er aus der Schule und ich aus dem Büro kamen - ein Ritual, das wir beibehielten bis zur 12. oder 13. Klasse. Dann kam er nach der Schule oft nicht mehr nach Hause, sondern traf sich mit Freunden.... und ich saß dort und habe diese kleine Gewohnheit vermißt und wußte, daß unser Abschied bereits begonnen hatte.

Auf dem Tisch stehen immer frische Blumen, dort brennt Tag und Nacht eine Lampe in einem Salzstein die ein in sanftes, gelbes Licht in den Raum wirft. Steine und Muscheln, die einer kleinen Box lagen, die ich aus Irland zurückbekam liegen verstreut, Strandgut, das er auf seinen Reisen gesammelt hatte, vielleicht kleine Geschenke von Menschen, die ihn liebten. Ein high cross hängt an der Wand. Er hatte es als Geburtstagsgeschenk für meine Mutter mitgebracht. Sie gab es mir nach seinem Tod zurück.

1. Juli, 2007

Dort - unter den Fotos - hängt auch die kleine Gedächtnistafel, die die Universität mir im Oktober 2000 anlässlich einer feierlichen Verabschiedung der Studenten, die das Semester beendet hatten, überreichte. Eine wunderschöne, ergreifende Geste. Die Universität hatte mich eingeladen und ich flog mit meinem Mann und einer Freundin  zu dieser Zeremonie für 24 Stunden nach Dublin und wir nahmen in  der erwürdigen Kirche St. Ann’s Church an einem denkwürdigen Ereignis teil,

Presented in loving memory of

Florin Gérard

Student of Psychology
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American College Dublin
1999 - 2000

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May He Rest in Peace
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Donald E. Ross
President
October 5, 2000

 

Niemand hatte den Schreibfehler in seinem Namen entdeckt: FLORIN. Ein wenig klingt sein Name - englisch ausgesprochen - wie Florin.... 

Wie soll man die Gefühle beschreiben, die man durchlebt, wenn einem eine Gedenktafel für den toten Sohn überreicht wird? Woher soll man die Worte nehmen für die Gefühle, die dort in einer Kirche entstanden, mitten unter Studenten mit ihren gespannt, glücklichen Gesichtern, Eltern, deren Stolz bereits ihre Körperhaltung verriet. Ja, sie hatten es geschafft, ihre Söhne und Töchter konnten das College verlassen als Psychologen, als Lehrer, als Volkswirte. Professoren und Honorationen waren angetreten, junge Menschen ins Leben zu verabschieden.... 

Als die Kirche sich zu füllen begann, setze sich ein Mann an die Orgel  und es erklang das „Air“ von Bach. Mein Herz stockte, denn dies war „unser Lied“  nicht die Version von Bach, das Thema war von einer Popgruppe übernommen – „Everything is going to be alright“, aber von Bach geliehen..Ich hatte die CD Florian geschickt und wir hatten es zu unserem Lied gemacht.... und hier erklang es und wir drei sahen uns an .... und wussten, dass es keine Zufälle gibt. Florian war unter uns! Eine tiefe Feierlichkeit kam über uns..... 

Da saßen wir drei  in einer der letzten Bankreihen, auf meinen Schoß lag ein Foto von Florian, an dem ich mich festhielt, um meinen Hals trug ich seine Kette. Mein Mann hatte sich - auf meinen Wunsch hin - eines von Florian’s Hemden angezogen und trug dessen schwarze Schuhe, die so neu aussahen, als habe er sie noch nie angehabt. Vielleicht hätte er eines Tages, zu diesem Anlass ein Paar solch schwarzer Schuhe und ein ähnliches Hemd getragen.... Er sollte bei uns sein, so nah wie möglich, er sollte diesen Moment der Ehrung und der Würdigung mit uns erleben. 

Jeder einzelne Student wurde verabschiedet, Reden wurden gehalten und ganz zum Schluß wurde ich aufgerufen. Es wurde eine kleine Laudatio für Florian gehalten, manchmal schien die Stimme des Redners zu ersticken, aber dann war sie wieder fest. Florian wurde als ein besonders begeisterter und begabter Student gewürdigt, ...."a student with  great potential"...er wäre mit Sicherheit ein guter Psychologe geworden... Und dann wurde ich nach vorn gerufen und mußte alleine durch dieses lange Kirchenschiff gehen - Schritt für Schritt und kein Laut war in der Kirche zu hören und alle sahen mich an und ich ging - wie in Trance - ich ging für Florian, er nahm mich an der Hand, anders hätte ich diesen Weg, den einsamsten Weg, den ich jemals gegangen bin, nicht schaffen können. Wir gingen ihn gemeinsam: mein toter Sohn und ich als seine Mutter! Seit er mir genommen wurde, habe ich sein Leben hinzubekommen. Dies gab mir die Kraft, nur dies allein. 

Die Tafel, aus massivem Holz, wog schwer auf dem Gang zurück zu meinem Platz - und die Menschen klatschten. Dies Klatschen tat weh. Ich verstand es nicht, fand es nicht passend, hätte mir gewünscht, sie hätten sich von ihren Plätzen erhoben und einen Moment geschwiegen. Als ich in meiner Bank saß, verließen mich die Kräfte... Hans-Jürgen legte besorgt seinen Arm um mich, Carola's Gesicht war naß vor Tränen.

Dann war die Zeremonie beendet, ich hatte ihr nicht mehr folgen können. Die Honorationen verließen - den Fahnenträgern folgend - ihre Plätze und nun folgte einer der bewegendsten Momente meines Lebens: Diese Honorationen, Professoren, Diplomaten, ein Bischoff - sie alle reihten sich ein vor meiner Bank und sie alle gaben mir die Hand und drückten ihr Mitgefühl und Beileid aus - eine Geste, die mich für Rührung kaum auf den Füßen hielt... Ich wurde umarmt von Diplomaten aus aller Welt, der Bischoff versprach, für Florian und mich zu beten... Ich wurde als Mutter geehrt, man erwies mir und meinem Schicksal Respekt, eine unglaublich liebevolle, schöne Geste. 

Und dann folgte die Stunde der Mütter: Als ich meine Bank verließ, um mich in den Strom der Menschen einzureihen, die nun schwatzend, sich umarmend und glücklich die Kirche verließen, trat die erste Frau an mich heran. Sie nahm mich wortlos in ihre Arme, schaute mir tief und fest in die Augen und ich sah ihren Schmerz, ihr Mitgefühl. "We are all mothers – wir alle sind Mütter "....Und dann kam die nächste und drückte meine Hand und wischte eine Träne weg und sagte mir, wie stolz Florian sei, dort , von wo er immer auf mich niedersieht. Und: "You are so brave, my God, you are such a brave woman!" Viele Gesichter, viele Hände waren um mich und ließen mich aus der tiefen Erstarrung aufwachen und auftauen - nein, ich war nicht mehr allein unter diesen Menschen. Wir ließen uns mit ihnen ins Freie treiben und als wir dort in der Kälte standen, einen Blick zurückwerfend auf einen Ort, der sich tief und für immer in unser Gedächtnis eingegraben hat, wußte ich besser als jemals zuvor, weshalb Florian dieses Land zu seiner Wahlheimat gemacht hatte. Wir können uns nicht aussuchen, wo wir geboren werden, aber wir können uns aussuchen, wo wir leben und wo wir sterben, las

ich in einem Buch. Florian hatte dieses Land gewählt und dieses Land hatte ihm heute Ehre erwiesen! Ich sah ihn in Gedanken vor mir – stolz und verlegen, er war doch so bescheiden!

Es waren in erster Linie die Menschen Irlands  von denen Florian immer begeistert erzählt hatte. Nun hatten wir sie erfahren und ich war ihm so dankbar und eine tiefe, unermessliche Liebe und Stolz auf diesen besonderen Sohn, meinen Sohn, breitete sich warm in mir aus. 

Mir war bewußt, dass diese Mütter hier, die auch heute in der Regel noch mehreren Kindern das Leben schenken, die Erfahrung des Verlustes eines Kindes sehr viel häufiger erleben, als dies bei uns geschieht. Der Umgang mit Trauer und Schmerz scheint hier zu einem Leben dazuzugehören, ich habe in Irland keine Sprachlosigkeit und Wortlosigkeit erlebt, die mich hier so oft schmerzt! 

Dies war ein weiter Ausflug aus dem "Zimmer meines Sohnes", aber dieses Zimmer birgt all diese Erinnerungen, es ist ein Ort des Erinnerns, des Gedenkens, der Tränen und manchmal der Stille und Ruhe.

Seine abgetragenen Basketballschuhe, von denen ich mich nicht trennen kann, stehen unter der Couch. Ihr Anblick rührt mich ganz besonders, denn sie sehen so als, als hätte er sie eben ausgezogen.... auch ein Ball liegt dort. Ich hatte ihn bereits an die Nachbarkinder verschenkt und bat sie nach Florian’s Tod, ihn zurückzugeben. Ich möchte alles um mich sammeln, was zu seinem Leben gehört hat.

An der Tür hängt ein Anzug, den wir ihm auf seinen Wunsch hin geschenkt hatten, als er mit Eimear zu einer Hochzeit eingeladen war. Das Foto, das von den beiden anlässlich dieser Hochzeit entstand, zeigt ihn mit ungewohnt skeptischem, verlegenen Blicken... Er scheint sich in seinem Outfit nicht recht wohlgefühlt zu haben. Eimear neben ihm, hält sich an seinem Arm fest und  wirkt erwachsen und stolz an seiner Seite.. Ähnlich hätte vielleicht ein Hochzeitsfoto der beiden ausgesehen, sie waren ein so wunderschönes Paar, seine irische Prinzessin und er....

Viele Gedichte liegen auf einem Stapel auf dem Boden, Bücher und Aufzeichnungen, Tagebücher und meine vielen Briefe, die ich nach wie vor an Florian schreibe. 

Engel begleiten einen dort im „Zimmer meines Sohnes“, Engel auf Karten, Engel als kleine Skulpturen, Engel aus Wachs und Engel aus Metall.... Engel als Boten und Mittler zwischen unseren Welten.


Vielleicht ist es
kein Weggehen
sondern Zurückgehen?

Sind wir nicht unterwegs
mit ungenauem Ziel
mit unbekannter Ankunftszeit
mit Heimweh im Gepäck?

Wohin denn
sollten wir gehen
wenn nicht
nach Hause zurück?

Anne Steinwart