Das Lied von der Anderwelt

es gibt einen See in der Anderwelt,
drin sind alle Tränen vereint,
die irgendjemand hätt’ weinen sollen
und hat sie nicht geweint.

es gibt ein Tal in der Anderwelt,
da geh’n die Gelächter um,
die irgendjemand hätt’ lachen sollen
und blieb statt dessen stumm.

es gibt ein Haus in der Anderwelt,
da wohnen die Kinder beinand
Gedanken, die wir hätten denken sollen
und waren’s nicht imstand.

und Blumen blüh’n in der Anderwelt,
die sind aus Liebe gemacht,
die wir uns hätten geben sollen
und habens nicht vollbracht.

und kommen wir einst in die Anderwelt,
viel Dunkles wird sonnenklar,
denn alles wartet dort auf uns,
was hier nicht möglich war.

Michael Ende

 

Was mich bewegt

Man muss den Dingen
die eigene, stille,
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt,
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann;
alles ist Austragen -
und dann
Gebären...

Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen
des Frühlings steht,
ohne Angst, dass dahinter kein Sommer
kommen könnte. Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge,
so sorglos still und weit ...

Man muss Geduld haben,
gegen das Ungelöste im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antwort hinein.

Aus: Rainer Maria Rilke: „Briefe an einen jungen Dichter“

Gedanken im Jahr Acht

„Gib Worte deinem Schmerz.
Gram, der nicht spricht
presst das beladne Herz
bis dass es bricht.“

Shakespeare

Sgeleschiff im Winter

6.1.2008
Die Natur ist im Eis erstarrt. Ich ging heute durch den Garten, stand am Fluss und hörte dem Klang der sich übereinander schiebenden Eisschollen zu – wie brechendes Glas – und dies bezeichnet meinen heutigen Seelenzustand: brechendes Glas.
Es ist einer dieser Tage, an denen dieses Bewusstsein, dass nichts je wieder wird „gut“ sein, mein ganzes Sein erfüllt und mich in tiefe Trauer und Sehnsucht stürzt.
Lange Stunden saß ich in Florians Zimmer, nahm zahllose Gegenstände, die mit seinem Leben in Berührung standen, zur Hand – hielt und betrachtete sie – und selbst der kleinste Zettel mit seiner Handschrift lies mich weinen.
Noch immer kann ich mich nicht von den Dingen trennen, die seine Hand berührt, sein Auge gesehen haben. Ich lege sie sorgfältig zurück in Kartons und ordne sie neu in einem großen Regal – Reliquien, die Zeugnis geben über ein gelebtes, abgebrochenes Leben. Ich fühle mich zerbrechlich, spüre die Wunden, die nicht heilen wollen und auch nicht heilen sollen.
Im Hintergrund höre ich Musik, die Eimear mir vor 2 Jahren aufgenommen hat

if tomorrow never comes
will she know how much I loved her
did I try in every way
to show her every day
that she's my only one
if my time on earth were through
and she must face this world without me
is the love I gave her in the past
gonna be enough to last
if tomorrow never comes

Heute ist einer dieser Tage, an dem die Songs, die ich höre, zu Gedichten werden, deren Sinn mich ergreift… “Ist die Liebe, die ich ihr in der Vergangenheit gegeben habe, groß genug um anzudauern, wenn es kein Morgen mehr gibt“.. und in meinem Herzen habe ich die Gewissheit, dass Florian seine Liebe großzügig verteilt hat und sie für den Rest meines Lebens in mir geborgen spürbar sein wird.

Ich frage mich, warum Liebe meist mit Freude gleichgesetzt wird, wenn sie doch ebenso gut alles andere ist: Überwältigung, Balsam, Obsession, Vertrauen und Trauern. Sie ist die Erkenntnis, was man oft nicht ist, aber sein könnte.

Ich lese Briefe aus den letzten Jahren, vor allem auch die wenigen, wertvollen von Eimear. Ich stelle ein neues Foto von ihr und Florian auf und hänge eine kleine Radierung, die sie mir einmal geschickt hat, an die Wand: sie zeigt eine Frau, die sich über den vor ihr knienden Mann beugt und die Arme schützend und behütend über seine Schultern legt. Auch dieses Bild rührt mich zu Tränen. Wann mag es entstanden sein? Sind dies die Dinge, die wie eine leise Vorahnung waren?

EimearEimear, wir haben sie im Sommer in Irland getroffen – zum ersten Mal seit 7 Jahren und es war eine berührend schönes Begegnung in ihrem Elternhaus, in dem Florian sich so wohl gefühlt hat.

Wir trafen eine  junge Frau, mit einem tiefen Strahlen und dem vertrauten Humor; nicht sehr verändert – ein wenig älter, noch schöner, als wir sie in Erinnerung hatten –  Florian würde ihr zu Füßen liegen, war mein Gedanke, als ich sie umarmte... endlich in die Arme schließen konnte! Wie oft habe ich mir dies Wiedersehen vorgestellt – und nun kam es völlig überraschend – unerwartet und überwältigte uns.

“…In loving memory of Florian Gérard who’s gentle hand guides me through life…”

Mit diesem einführenden Satz beginnt eine Diplomarbeit, die Eimear zum Ende des Jahres eingereicht hatte und die sie uns stolz zeigte. Ich fühlte mich beinahe schuldig, je geglaubt zu haben, ihre Liebe zu Florian habe geendet. Sie muss anders mit der Erinnerung umgehen als ich – aber sie ist es, die mir obigen Song schickte.. Sie setzt ihre eigenen Zeichen der Treue und der Loyalität – was für ein großes Geschenk – auch an uns.

Wir fühlten uns in diesem Jahr von Irland ganz besonders reich beschenkt und die Begegnung mit Eimear bleibt mit Sicherheit das high-light 2007!

stairway to heaven

Dublin, "Stairway to Heaven"

Im letzten Sommer habe ich die Buchstaben mit Florians Namen und dem Tag seines Sterbens an dieser Stelle an die Schwelle geklebt – und ich war berührt, sie dort noch immer zu finden.


Nicht, dass ich weine Liebster, darf dich wundern,
Nur, dass ich manchmal ohne Träne bin

Mascha Kaléko



Auch, wenn es Tage wie den heutigen, mit einer großen, tiefen Nähe und Verbundenheit gibt, bin ich mir doch bewusst, dass der Abstand zwischen Florian und mir gewachsen ist und ich überdenke erneut das Wort „loslassen“, vor dem ich mich so sehr gefürchtet habe in all den Jahren. Ich habe keine Angst mehr vor diesem Wort, denn ich bin mir heute sicherer denn je, dass es nicht um “Loslassen“ geht. Im Trauerprozess geht es nicht um das Beenden der Liebe, sondern um ihre Transformation. Die Trauer hilft bei dieser Wandlung der Liebe zum Verstorbenen.

Die Liebe reicht über den Tod hinaus

Auch wenn der Tod das Leben beendet hat - nie wird er die Liebe beenden können. Er verändert nur die Beziehung. In der Liebe zu dem Vorausgegangenen lebt diese Beziehung weiter!

"Trauer ist nicht nur die Emotion des Abschieds, sondern Trauer ist das Gefühl, das Hinterbliebenen hilft, eine neue Beziehung zum Verstorbenen zu finden!"

Roland Kachler, Meine Trauer wird dich finden

In diesem Buch las ich, was ich selbst erlebte und erlebe, nämlich, dass der Vorausgegangene bei den  Lebenden bleiben kann. Die Trauerarbeit als kreativer Beziehungsprozess. Dies ist mein Ansatz, den ich – ohne dass ich dies Buch kannte -- immer so verstanden und gelebt habe. Es geht in der Trauer doch darum, mit dem Verstorbenen und nicht ohne ihn zu leben...Nicht das Loslassen ist wichtig, sondern die Liebe zum Verstorbenen, die weiter reicht. 

Ein Wort von Thornton Wilder - es ist so wunderschön:
"Was bleibt, ist die Liebe. Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe - das einzig Bleibende, der einzige Sinn".


Florian

Wie sähe Florian heute aus?

Dein Bild begleitet
mein Leben und weicht
mir nicht aus der Seele

C.+W. v. Humboldt


"Wenn ein Kind stirbt, weiß man, dass Raum und Zeit Zustand sind, und man vermag nur zu knien, sein Kind im Sterben zu erreichen"

Elke Lasker-Schüler

Ich lese weiterhin viel zum Thema „Trauer“ – habe diesem Thema mein Leben verschrieben.
Trauer, der Verlust eines Menschen ist unsichtbar und die Wunde liegt tief in uns verborgen .. Wir lernen irgendwann, weiterzuleben.. jeder in seinem Lebens- oder besser Trauerrhythmus. Aber niemals wird dieses Leben vollkommen sein und ich habe das Gefühl, dass ich diese Tatsache erst jetzt, erst in den letzten Monaten wirklich akzeptiert habe.
Und dieses Akzeptieren ist – meiner Meinung nach – die Voraussetzung, sich dem LEBEN zuzuwenden.. Den Tod aus dem Mittelpunkt an die Peripherie zu stellen ist schwer aber es kommt mir immer seltener wie Verrat vor.
Der Psychologe C.G. Jung hat für Trauer einmal den Begriff „Erinnerte Liebe“ geprägt und darum geht es in unserem Leben: Einen Raum zu schaffen für die Erinnerung.
„Was würdest Du wollen?“ frage ich Florian und ich kenne seine Antwort:

„…Wende dich denen zu, die deine Liebe, deine Fürsorge und deine Wärme brauchen. Du hast mir alles gegeben, auch nachdem ich das Erdenleben beenden musste: Du hast mir die schönste Ruhestätte gestaltet.. Du warst jahrelang täglich bei mir – und seit ihr mich der Erde übergeben habt, brennt auf meinem Grab ein Licht – auch heute noch. Du hast gelitten und den Kelch der Trauer getrunken bis auf den Grund… mehr ging nicht und erst als du spürtest, dass jeder weitere Schritt dich aus dem Leben führen würde, bist du umgekehrt und hast dich besonnen auf das, was blieb….“

Dies ist die Botschaft, die ich in meinem Herzen höre: bleibe bei denen, die blieben und wende dich denen zu, die hinzugekommen sind… wie unsere Enkelkinder, die ich aus tiefem Herzen lieben gelernt habe.

Mein Haus sagt zu mir: „Verlass  mich nicht, denn hier wohnt deine Vergangenheit“.
Und die Straße sagt zu mir: „Komm und folge mir, denn ich bin deine Zukunft“.
Und ich sage zu beiden, zu meinem Haus und zu meiner Straße:
„Ich bin weder Vergangenheit noch Zukunft. Wenn ich hier bleibe, ist ein Gehen in meinem Verweilen; und wenn ich gehe, ist ein Verweilen in meinem Gang.
Nur Liebe und Tod ändern die Dinge“.

Khalil Gibran


Irland 2007

Irland 2007

 

Ausblick:
Ich arbeite nicht mehr. Die Kraft reichte nicht mehr für beide Leben. Nun habe ich Zeit für mich, für meine Gedanken, für Projekte, die ich begleite, leite – wie z.B. den „Garten der Sternenkinder“ auf unserem Friedhof – nicht weit von Florians Grab entfernt. www.efeu-ev.de
Diese Arbeit erfüllt mein Leben mit Sinn. Eltern zu begleiten, die ihre Kinder verlieren, die nie leben durften, das ist eine der Aufgaben, die ich mir gestellt habe. Ich mache z.Zt. eine Qualifikation zur Trauerbegleiterin, und hoffe, die Kraft aufzubringen, mich weiteren Aufgaben zu stellen.

Die Nacht wird nicht ewig dauern.
Es wird nicht finster bleiben.
Die Tage, von denen wir sagen,
sie gefallen uns nicht,
werden nicht die letzten Tage sein.
Wir schauen durch sie hindurch
vorwärts auf ein Licht,
zu dem wir jetzt schon gehören
und das uns nicht loslassen wird.“

Helmut Gollwitzer

Florians Grab

Florians Grab Oktober 2007

 

Die Liebe eines Menschen
Kannst du nicht begraben,
sie mit Erde zuschaufeln,
wie Urnenasche in den Wind zerstreuen.

Die Liebe eines Menschen
vervielfältigt sich
mit seinem Tod
unter den Lebenden
tausendfach.
Die Liebe kannst Du nicht begraben.

(Hüsch)

 

Berlin, im Januar 2008