Erschienen am 24. August 2001 im "Tagesspiegel" auf einer Sonderseite, die Menschen gewidmet ist, die unlängst verstorben sind
Mein Weg der Trauer
Nachruf Florian Gérard, geb. 1976
Sie lernten sich im irischen Pub kennen. Das Mädchen meinte, einen wunderschönen, aber minder schlauen Jüngling vor sich zu haben. Das sagte sie ihm. Und er sagte ihr mit einem Shakespeare-Sonett, wie wunderbar er sie fand.
geschrieben von: Katja Füchsel
Es machte ihn glücklich, still am Fenster zu sitzen, in den irischen Himmel zu blicken, während der Regen gegen das Fenster peitschte. Ja, sagte sich Florian Gérard beim Blick in die dunklen Wolken, ich bin auf der Sonnenseite geboren. "Das Leben ist für mich einfach so irreal, aber es ist großartig!", schrieb er nach Berlin.
Damals war Florian 20 Jahre alt. Kein Kind mehr, noch kein Mann, lebenshungrig und wissensdurstig. Es war das Jahr, in dem sich Florian zum ersten Mal verliebte: in Eimear, eine irische Schönheit, blass, mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Wenn einem Talente zufliegen können, dann flog Florian damals das Leben zu. Seine Mutter war stolz auf ihren "großen, wunderbaren Sohn in Irland" - bis zu jenem 1. Juli 2000.
"Florian ist tot", weinte Eimear ins Telefon. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen. Ohne Vorwarnung, ohne erklärbaren Grund. Florian war bewusstlos zusammengebrochen, starb auf der Treppe, 23 Jahre alt, in Eimears Armen.
Florians Mutter schleuderte der Anruf "in eine andere Umlaufbahn". Erst machte der Schmerz Gabriele Gérard taub, dann wollte sie Florians Tod in die Welt hinausschreien. "Ich musste Worte finden, das Unfassbare ausdrücken zu lernen", sagt Gabriele Gérard. Zwei Seiten im Internet ließ sie sich deshalb einrichten: www.trauer-um-florian.de und www.memoriam.de/florian. "Florian ging uns voraus", heißt es da. Unter einem Gedicht lacht einem ein junger Mann entgegen: Florian im Garten, Florian am Strand.
Mit seinem offenen Lachen hatte Florian schon früh die Leute entzückt, ein sonst ganz zurückhaltender, stiller Junge. Andere Kinder quengeln auf langen Fahrten, Florian liebte es, sich auf der Rückbank in seine Decken zu kuscheln und die vorüberfliegende Landschaft zu beobachten. "Das war für mich der Inbegriff von Gemütlichkeit", sagte er später.
Florian war neun, als sich die Eltern trennten. Drei Jahre später durfte Gabriele Gérard erleben, wie sich ihr "zarter Sohn" pubertierend "in eine Furie" verwandelte. Florian brüllte, schimpfte, schlug Türen. Stritt über das Aufräumen, seine Kleidung, Haushaltsregeln, den Mülleimer, seinen Haarschnitt - und kämpfte doch immer nur um seine Eigenständigkeit.
In der Schule blieb Florian der Junge mit dem tadellosen Ruf: freundlich, ruhig, bescheiden. Einer, der schlichtend dazwischenging, wenn zwei sich stritten. Ein begeisterter Basketballspieler, Spieler im türkischen Verein Gök Türk Spor. In der amerikanischen Liga kannte Florian jeden Spieler, vorm Fernseher schrieb er Zahlen und Namen in lange Tabellen. Bis zur 11. Klasse lernte Florian gerne, dann wurde die Clique wichtiger: Mirko, Boris, Jette, Miriam, Kevin.
Gabriele Gérard versuchte nicht, ihren einzigen Sohn an sich zu klammern und kam Florian dadurch besonders nah. "Meine Mutter ist meine erste und beste Beraterin", sagte er. Als Florian nach dem Abitur alles hinter sich lassen wollte, nach Irland gehen, um in Camphill, einer Lebensgemeinschaft behinderter und nichtbehinderter Menschen, seinen Zivildienst zu absolvieren, riet sie ihm zu. Es war ein schwerer Start ins neue Leben. "Er hat damals oft geweint am Telefon." Florian quälte die Sehnsucht nach den Freunden, der Familie, nach Berlin.
Doch mit der Zeit klangen die Briefe fröhlicher, später begeistert. Seine Mutter hat sie in zwei Leitz-Ordnern gesammelt und in Auszügen im Internet veröffentlicht: "Das Gute ist, dass ich auf meiner Reise nie meinen Heimathafen vergessen werde", schreibt Florian da.
Florian verliebte sich in das Land, in seine Menschen und Camphill. Morgens um sechs stand er auf zum Kühemelken, war Tag und Nacht für fünf geistig Behinderte in seinem Haus zuständig. Mit ihnen arbeitete er in der Weberei, bestellte Felder mit Kartoffeln und Zwiebeln. Nach 16 Monaten verlängerte Florian in Camphill - und dann immer wieder.
Vor vier Jahren, Heiligabend, lernte er dann Eimaer, dieses 17-jährige, wilde irische Mädchen, im Dorfpub kennen. Eimaer fand Florian wunderschön, mit seinen grün-blauen Augen und der blond-gelockten Mähne. Nett fand sie den Deutschen auch, hielt ihn aber für nur mäßig intelligent und sagte ihm das. Florian reagierte auf die Keule gewissermaßen mit dem Florett. "Shall I compare thee to a summers day, / thou art more lovely and more temporate?", rezitierte er in der lauten Kneipe ein Shakespeare-Sonett - "Soll ich dich einem Sommertag vergleichen, / Dich, die Du lieblicher und milder bist?"
Mit Eimaer veränderte sich Florians Leben, die Arbeit erschien ihm mühsamer, das Briefeschreiben zeitraubend. "Ich will jetzt auch mal egoistisch sein! Ich will mit Eimaer zusammen sein! Ich will studieren!", sagte Florian am Telefon. Er zog mit seiner Freundin nach Dublin, schrieb sich für Psychologie ein, wollte Mediator werden. Eimaer ging aufs College, studierte "Culinarian Art". Es hatte die beiden schwer erwischt: Am Valentinstag fuhren sie zusammen nach Paris, heulten im Kino bei "Titanic" um die Wette, dachten sich Namen für ihre zukünftigen Kinder aus. Erst sollten es vier sein, später nur noch zwei.
Als Florian und Eimaer im letzten Sommer für zwei Wochen nach Berlin kamen, wirkte Florian verändert, reifer als andere Jungen seines Alters. "Er war ziemlich fertig in seiner Entwicklung", sagt Gabriele Gérard. Nichts deutete bei seinem Abflug auf das jähe Ende hin, und als es wenige Tage später trotzdem kam, hatten die Ärzte nur eine Erklärung: Schicksal. "Wir wissen nicht warum, aber offenbar war seine Zeit abgelaufen", sagte der Arzt.
Hatte Florian gespürt, dass ein Unheil über ihm lag? Weshalb hat er Eimear erzählt, dass er in Berlin beerdigt werden möchte? Das sein Grab wie "ein kleiner Garten" aussehen soll? Als die beiden Frauen vor der Trauerfeier an seinem offenen Sarg niederknieten, wirkte Florians Gesicht friedlich, wenn auch wenig trotzig. "Gabi, he looks different", flüsterte Eimear da. "He's home now."
Eimear, 8.Juli 2000