Florian und Gabi

So fern und doch so nah,
wie sich das weite Meer
und der endlose Himmel sind,
wenn sie am Horizont
ineinanderzufließen scheinen,
so eng verbunden
und doch so weit entfernt
sind Diesseits und Jenseits,
sichtbare und unsichtbare Welt.
So fern und doch so nah
Sind die Menschen,
die uns verlassen mußten
und doch immer zu uns gehören.

(Irmgard Erath)

Gedanken im Jahr Zwei

„Das Wesentliche ist dass das, wovon man gelebt hat, irgendwo weiterbesteht. Und die Gewohnheiten und das Familienfest. Und das Haus der Erinnerungen. Das Wesentliche ist, dass man für die Rückkehr lebt“

(Antoine de Saint-Exupéry)

 

Warum ich schreiben muss

Als der schwere Schock über Florians Tod, der mich wie in ein Vakuum gepackt und der sich gnädig über die ersten zwei Wochen gelegt und mich geschützt hatte,  nachließ, als langsam die Gewissheit in mich einsickerte, dass dieser Tod von Florian Realität ist und dass es aus diesem Albtraum kein Entrinnen und kein Entkommen gibt, als mir deutlich wurde, dass nun mein Überlebenskampf begonnen hatte, da begann ich, in meinem Buch des Lebens, meinem Tagebuch, zu blättern. Über die vielen beschriebenen Seiten hatte sich ein weißes Blatt gelegt und ich spürte, dass meine Aufgabe sein würde, dieses neue Kapitel meines Lebens, in Form dieses weißen Blattes,  zu füllen.

In den aufgeschlagenen Seiten eines verblassenden Lebens blätternd fand ich so wenig Worte, die  mir halfen, dieses Grauen zu benennen. Ich hatte Worte für solch einen Schicksalsschlag nicht gesammelt. Solche Schläge sind doch immer für die anderen bestimmt, nicht für einen selbst und so treffen sie einen unvorbereitet fast tödlich.
Die beschriebene Seiten in diesem Buch hielten nicht viel für mich bereit, um mich dem anzunähern, was nun den Rest meines Lebens begleiten würde - die unermessliche Trauer über den Verlust meines Sohnes!
Ich fand keine Worte für die Abgründe, die sich in mir auftaten, durch die ich hindurch mußte, vor denen es  kein Entrinnen gab. Ich sah aber auch  keinen Umweg:
"You have to get in to get out". Aber wie?

Nachdem ich Florian's Körper hatte zurücklassen müssen, mich in die Ruhe und den Schutz meiner Umgebung  versenkte,  füllte sich mein eigener Körper mit grenzenloser Panik, Angst und Schmerz.

"Ich fürchtete mich vor jeder nächsten Stunde, vor jeder Minute, jeder Stunde, jedem kommenden Tag meines Lebens ohne ihn. Es erschien mir unmöglich, ohne ihn zu leben und mit dem Wissen, dass er der nächsten Sekunde, dem nächsten Bruchteil einer Sekunde, der nächsten Minute, der nächsten Stunde, dem nächsten Tag nicht da sein wird...:"
(Connie Palmen)
Meine Seele begann, sich auf die Suche zu machen. Sie suchte nach einem Satz, der mir Halt, einem Wort, das mich retten könnte...
Ich wurde Suchende in dem Bewusstsein, immer  Suchende zu bleiben, suchend nach der
Erklärung und dem Sinn dieses unersetzbaren Verlustes.

Ich begann zu lesen: Ich las Elisabeth Kübler-Ross, Khalil Gibran, St. Exupéry,  Seneca, O’Donohue: ich entdeckte die Spiritualität als unerschöpfliche Kraft der Heilung.
Ich las alle Bücher, die ich finden konnten, in denen Mütter über den Tod ihrer Kinder schreiben, enttäuscht darüber, wie wenig Literatur es hier zu finden gab. Ich fand Trost in Gedichten und die Poesie wurde mein schönster Begleiter – Die Poesie ist die Sprache der Stille!



Die leere, aufgeschlagene Seite im Buch meines Lebens füllte sich langsam, Worte reihten sich an Worte, Sätze an Sätze. Ich war erfüllt von großer Dankbarkeit all denen gegenüber, die dieses Grauen, vor dem ich stand,  vor mir in Worte zu kleiden versucht hatten und mir damit halfen, mich meinem eigenen Grauen zu nähern und dann, als eine Sprache in mir entstand, konnte ich beginnen, zu schreiben.
Ich muß schreiben. Das Schreiben ist meine Ausdrucksform geworden, im Schreiben finde ich Ruhe, durch das Schreiben erlebe ich die Verbindung zu Florian. Das Schreiben ist ein Ventil, die Gedanken, die oft wahllos durch meinen Kopf ziehen, zu ordnen, zu sortieren,
ihnen eine Form und einen Ausdruck zu verleihen. Ich schreibe Briefe.
Seit Florian in Irland gelebt hat, haben wir geschrieben, fast 5 Jahre lang. Ich spüre im Schreiben eine  Kontinuität meiner Beziehung zu ihm, eine Brücke zwischen unseren beiden Welten.  
Ich schreibe Menschen, die mich über meine Gedächtnisseiten für Florian gefunden habe. Ich teile meine Gedanken, meinen Schmerz, meine Erkenntnisse und das, was mir Trost gab, mit ihnen.
Ich würde gerne ein Buch schreiben!

Gabriele Gérard
11. Jan. 2002

 

"Das Leben mancher Menschen bildet einen vollkommenen Kreis. Das von anderen nimmt Formen an, die wir nicht vorhersehen und nicht immer verstehen werden. Der Verlust ist ein Teil meiner Reise gewesen. Er hat mir aber auch gezeigt, was kostbar ist. Das mir auch diese Liebe gezeigt, für die ich auf ewig dankbar sein werde."

(aus "Message in a bottle")

"Sterben war für mich immer etwas, das andere Menschen betraf. Es würde nicht jemandem zustoßen, den ich liebe"... Denken wir nicht so? Und wenn der Tod dann in unser Leben einbricht, ist es fast unmöglich, dies zu fassen, die Realität der Situation zu akzeptieren, wir fühlen uns von dem abgeschnitten, was wir immer für wahr gehalten haben. Wie können wir jemandem erklären, was es bedeutet, jeden morgen mit dem Gefühl aufzuwachen, in einem Alptraum zu leben - ein Alptraum, der niemals endet, aus dem es kein Erwachen, kein erlösendes Erwachen gibt..."Das Schreckliche, das dir passiert ist, ist wahr. Es ist nicht erfunden, es ist kein Irrtum"....Wie sollen wir das vermitteln?

"Manchmal scheint die ganze Welt entvölkert zu sein, wenn ein einziger Mensch fehlt."

(Lamartine)

 

Engel auf einem Kindergrab

Kindergrab auf dem Friedhof in Prerow (Darß)


Ich kam nicht mehr zurecht in dieser Welt, die zu einem verwirrenden, chaotischen Ort wurde,  dieser Gesellschaft, in der die Trauer keinen Platz hat. Häufig ließ ich in meinen Gedanken eine Gesellschaft entstehen, die den Trauernden mit Rücksicht und Respekt begegnet. Die Ausflüge ins "normale Leben" waren mir eine Qual: es gab keine Räume der Stille, wo immer ich hinging brüllte mir laute Musik entgegen, das Gesicht der fun-Gesellschaft war wie eine lachende Fratze, die mich erschreckte und mich oft mutlos und sprachlos zurück in meine Stille flüchten ließ. Ich fühlte mich ausgegrenzt und niemand war da, der mir sagen konnte, wie man mit einer solch unendlich tiefen Erschütterung leben kann. Ich hüllte mich in meinen Kokon aus Trauer und Stille, wand mich der Natur zu, der Lyrik, der Sprache der Stille.

Ich begann im Internet zu suchen, hoffte dort Rat, Hilfe und  Unterstützung  zu finden. Vergeblich. Ich wollte mich keiner "Betroffenengruppe" anschließen, eine solche Gruppe war mir zu nah. Ich wollte die Individualität meiner eigenen Trauer leben und erleben und wußte auf eine Art, daß man nur in der Stille und Einsamkeit des eigenen Selbst aus diesem Leid herausfinden kann. Ich hatte mich vom "normalen Leben" völlig zurückgezogen, lebte in meiner Welt der Trauer und suchte nach einer Verbindung zur Welt und das Internet erschien mir  als eine Möglichkeit der Kontaktaufnahme. Ich wollte schreiben, nicht sprechen über Florian's Tod, ich mußte zunächst  Worte finden, das Unfaßbare ausdrücken zu lernen.

"Der Mensch besitzt eine Seele, die unvergänglich ist.
Sie wird in Ewigkeit nicht sterben. Der Tod ist nur ein
trennender Schleier zwischen zwei Welten. Wer aber eine
Seele mit ewiger Liebe liebt, der zerreißt den Schleier
und vereinigt sich mit ihr"...

Said Akl : "Die Seele nach dem Tod"

 

Es war wie ein Geschenk, eines Tages eine Mutter zu finden, die ihr Kind auf die gleiche Weise wie ich Florian verloren hatte. Wir schreiben uns und ich bin ihr so dankbar für die liebevolle und geduldige Begleitung! Endlich kann ich erfahren, was es heißt, wenn jemand um mich weiß und diese Erfahrung hat mir Mut gemacht, meine eigene homepage zu erstellen und mich mit meinem Schicksal an andere Menschen zu wenden, sie entstand aus dem Wunsch, mein Schicksal zu teilen, aus dem Wissen daß es so viele Menschen gibt, die um den Verlust eines anderen geliebten Menschen trauern. Ich selbst fühlte mich oft so allein gelassen, allein gelassen deshalb, weil es niemanden gab, der um mich wußte. Die Menschen versuchten, zu "erahnen", was ich durchlebte, nur die Mutigen, viele zogen sich hilflos zurück, es wurde stiller um uns, Hans-Jürgen, meinen Mann, und mich.

Ich möchte mit dieser Seite ein Forum bieten für Menschen, die trauern, vor allem für Eltern, die ihr Kind verloren haben, für junge Menschen, die ihren Partner verloren und nun mit diesem unermesslichen Schmerz leben müssen. Ich möchte, daß wir um einander wissen! Ich möchte lernen von denen, die weiter sind, die weiser sind als ich.

Ich möchte Anregungen geben, Gedichte, Texte, die mir halfen, die mich über viele Tage und Wochen trugen und weiterhin tragen und ich erhoffe mir Anregung und Trost von denen, die wiederum "weiter" sind und eigene Wege beschritten haben, die sie am Leben hielten.

"Die Liebe, die mich mit Florian verband, war ein Geschenk. Ich habe jetzt eine schwere Last zu tragen, doch ich werde sie tragen und mich immer, wenn es nötig ist, daran erinnern, daß die Alternative wäre, auf der Welt zu sein, ohne diese besondere Beziehung gekannt zu haben. Der seelische Schmerz, den ich durchgemacht habe und der mich immer wieder erfaßt, steht für die Liebe, die der größte Reichtum meines Lebens war und immer noch ist". (Angelehnt an Carol Staudacher, Meditationsführer für Frauen "Tage der Trauer, Tage der Heilung" ) und "Ich habe entdeckt, daß ich Kraft und Geduld und Ausdauer habe. Ich weiß, daß ich eine Quelle der Weisheit besitze, die für den Rest meines Lebens in mir sein wird und die mir jederzeit zur Verfügung steht."

Gabriele Gérard