Wenn das Netz Trauer trägt

Von Adrian Hoffmann
Der Beitrag ist am 10. November 2004 in der „Badischen Zeitung“ erschienen.

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Briefe an den toten Sohn

Von Steffen Becker
Der Beitrag ist am 13. Juni 2004 in der „Stuttgarter Zeitung“ erschienen.

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Die Erinnerung lebt weiter

Von Holger Doetsch

Der Beitrag ist am 23./24. November 2002 in der „Märkischen Oderzeitung“ erschienen.

17. Oktober 2002. Es ist der 26. Geburtstag von Florian Gérard. In seinem Elternhaus in Berlin-Köpenick finden sich am Abend viele Freunde und Bekannte ein, es gibt Wasser, Wein und Pizzabrot. Florians Mutter Gabriele und ihr Mann Hans-Jürgen haben auf einem hellen Sofa Platz genommen und schauen zufrieden auf die recht bunte Schar der Gäste, die den Weg zu ihnen gefunden haben. Nur noch das Geburtstagskind fehlt. Doch Florian wird an diesem Abend niemanden begrüßen. Er wird niemanden in die Arme nehmen und niemandem sagen, wie fröhlich er ist. Und sein helles Lachen wird niemanden anstecken. Denn Florian ist seit über zwei Jahren tot.

Rückblende. Samstag, 1. Juli 2000. Es war der Hochzeitstag von Gabriele und Hans-Jürgen, und nach unbeschwerten Stunden kehrten sie erst am späten Abend in ihr Haus zurück. Das Leuchtsignal ihres Anrufbeantworters blinkte und hielt 16 Nachrichten bereit. Nachrichten, die das Leben der Gérards für immer veränderte. Hans-Jürgen rief Eimear, Florians Freundin, in Dublin an. Weinend sagte sie: „Florian ist tot!“. Der gerade mal 23-Jährige war wenige Stunden zuvor in seiner Wohnung in Dublin auf einer Treppe zusammengebrochen und dann in den Armen Eimears gestorben. Ohne erkennbaren medizinischen Grund, wie die Ärzte später bestätigen werden: „Wir wissen nicht warum, aber offenbar war seine hier Zeit abgelaufen“, so der behandelnde Doktor.

Es war diese Art von Tod, der so hinterhältig daher kam, sich mit keiner Silbe ankündigte; dieses unvermittelte Hereinbrechen einer Tragödie, die Gabriele Gérard den Boden unter den Füßen wegriß und sie bis ins Mark erschütterte: „Der Tod meines Sohnes hat mich in eine andere Umlaufbahn geschleudert“, sagt sie heute. Zuerst zog sie sich zurück: „Ich kam nicht mehr zurecht in dieser Welt, und die Ausflüge in das ´normale` Leben waren für mich eine Qual. Wo immer ich hinging brüllte mir laute Musik entgegen, das Gesicht der Fun-Gesellschaft war wie eine lachende Fratze, die mich erschreckte und mich mutlos und sprachlos zurück in meine Stille flüchten ließ.“

Dann, als sie endlich die ersten Worte für das Unfaßbare fand, wurde sie zu einer Botschafterin für Florian. Seine Gedanken sollten ebenso wenig verloren gehen wie die Erinnerung an ihn. Sie wollte ihm ein Denkmal setzen und richtete im Internet eine Seite für ihren Sohn ein.

Fotos zeigen dem Betrachter einen jungen und schönen Mann mit langen Haaren, grau-grünen Augen und einem gewinnendem, irgendwie kindlichem Lächeln. Gabriele Gérard hat all die vielen Briefe, die ihr Sohn ihr in den Jahren zuvor aus Irland gesandt hat, abgeschrieben und die wichtigsten Gedanken ins Netz gestellt. Trauerarbeit, bei der sie Hans-Jürgen bis heute unterstützt. Er ist nicht Florians Vater, doch er war, wie Gabriele Gérard es formuliert, „ein liebevoller und väterlicher Begleiter, auf dessen Wort Florian sehr viel gab und auf den immer Verlaß war.“

Die Gedenkseite hatte rasch ihren Sinn erfüllt. Immer wieder bekommen die beiden Post von Menschen, die ergriffen sind von ihrem Schicksal. Die Briefe enthalten Gedichte und andere Texte, gutgemeinte Ratschläge, Literaturtipps und Hinweise auf tröstende Musiktitel wie Herbert Grönemeyers „Der Weg“: „Kann kaum noch glauben / Gefühle haben sich gedreht / Ich bin viel zu träge um aufzugeben / Es wäre auch zu früh / Weil immer was geht...“

Gleichwohl mag der Auftritt der Homepage manchen Besucher auch irritieren: „Für meinen Sohn Florian Gérard, geboren am 17.10.1976, vorausgegangen am 1.7.2000.“ Florian ist für sie also nicht gestorben. Er ist auch nicht von ihr gegangen. Florian ist vorausgegangen. Diese schon bei der Wortwahl beginnende Tiefe der Gefühle, mit denen Gabriele Gérard ihrer Umwelt auch über zwei Jahre nach Florians Tod konsequent begegnet, machte es manchen Bekannten und Freunden nicht einfach. Und je mehr Zeit nach dem 1. Juli 2000 verging, um so mehr wandten sich jene Bekannten und Freunde schließlich ab. Dies, weil man Gabriele Gérard und ihrem Mann mit Sprüchen wie „Das Leben muß doch weitergehen!“ nicht erreichen kann, sie damit allenfalls wütend stimmt. Denn für beide wird das Leben so, wie sie es vor dem 1. Juli 2000 gelebt haben, niemals weitergehen. Der 1. Juli 2000 ist für sie gar der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Die Mutter zitiert die galizische Schriftstellerin Mascha Kaléko: „Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? (...) Bedenkt, den eigenen Tod den stirbt man nur, doch mit dem Tod des anderen muß man leben.“ Gabriele Gérard sagt inzwischen aber auch: „Der Schmerz ist etwas ruhiger geworden, wenn es auch heftige Rückschläge gibt. Ich spüre aber auch eine Kraft in mir, von der ich niemals geglaubt habe, sie zu besitzen. Ich kann wieder mehr Geben und nicht nur Nehmen. Die Trauer ist auch eine Quelle von Inspiration und Kreativität...“

Wer den Weg durch die Homepage weitergeht, bekommt rasch einen Eindruck davon, warum Florian in den Augen der Zurückgelassenen ein so besonderer Mensch gewesen ist. Und warum seine Mutter heute in ihrer unerschütterlichen Liebe zum einzigen Sohn düstere Gedanken wie die der Mascha Kaléko bemüht. Am 16. Juni 1997 etwa schrieb Florian: „Das Leben ist für mich einfach so irreal - aber es ist einfach großartig! Manchmal beneide ich mich wirklich selbst um diese Chance. Ich sehe sie als riesiges Geschenk an und mir wird immer wieder einmal bewußt, daß ich auf der Sonnenseite des Lebens geboren wurde...“. Dieses Geschenk eines Glückes wollte Florian an andere weitergeben. Bevor er sein Studium der Psychologie in Dublin aufnahm, lebte er als „Zivi“ in Camphill in einer anthroposophischen Lebensgemeinschaft behinderter und nicht behinderter Menschen, organisierte und absolvierte dort Haus- und Feldarbeit und erlebte hier eine große innere Reifung.

Florian hat seine letzte Ruhe auf dem „Alten Sankt Matthäus Kirchhof“ in Berlin-Schöneberg, ganz in der Nähe der vier Gebrüder Grimm, gefunden. Gabriele Gérard und ihr Sohn haben sieben Jahre gegenüber diesem Friedhof gewohnt. Besucht haben sie ihn in dieser Zeit nicht ein einziges Mal. Florians letzte Ruhestätte wird von der Mutter nicht gerne als Grab bezeichnet.  Sie spricht lieber von einem „little Garden“. Und da es kein Grab sein soll, gibt es auch keinen Grabstein. Der mit der Familie befreundete Künstler Egidius Knops installierte eine Skulptur, die ein Messingsegel und die Takelage eines Bootes andeutet. Ausdruck der Lieblingsmetapher von Florian: Das Lebensboot. Vor dem „little Garden“ steht eine Bank, die zum Verbleiben und zur Begegnung einlädt. Es ist ein ungewöhnlich leichter Ort, und in den Blumen und Pflanzen sind zahlreiche in Folien eingeschweißte Fotos und Briefe drapiert, die von der Zuneigung und der Liebe der Besucher des „little Garden“ zeugen. Im Wind wiegt sich ein kleines Holzkreuz, das ein Unbekannter an das Segel gehängt hat.

17. Oktober 2002. Es wird gemeinsam gelacht und gemeinsam geweint. Das Haus der Gérards liegt direkt an der Dahme, und so werden kleine Boote auf das Wasser gesetzt, die Kerzen und kleine Zettel mit guten Wünschen für Florian bei sich führen. Fast jeder der Geburtstagsgäste trägt an diesem Abend etwas zum Gedenken an Florian bei: Gedichte, Liedstücke, Briefe. Von Eva Cassidy ertönt der „Anniversary Song“, von W. B Yeats „The stolen child“: „Folge mir, du Menschenkind, wo die Naturgewalten sind, mit einer Elfe Hand in Hand, denn die Welt ist weit mehr voll Trauer, als fassen kann dein Verstand.“ Später dann wird einer sagen: „Wenn Gott Engel braucht, dann holt er sich nur die, die es auch verdienen, ein Engel zu sein. Es ist schön, einen Freund im Himmel zu haben...“ Und Gabriele Gérard erwidert milde: „Das ist ein Trost für Dich. Für mich ist dieser Engel die Quelle von Schmerz und Verzweiflung.“ Und dann können alle noch einmal lesen, was Florian im Juli 1999 schrieb, als er nach Dublin ging: „Das Gute ist, daß ich auf meiner Reise nie meinen Heimathafen vergessen werde und ich weiß, daß ich jederzeit umkehren kann (...).“ Ein Jahr später nur ist Florian in einem meerblauen Sarg in seinen Heimathafen zurückgekehrt.  „www.trauer-um-florian.de“ und“ www.memoriam.de/florian“.