Auf Flügeln der Morgenröte will ich dich tragen
ich werd bei dir sein auch an finsteren Tagen
ein wärmender Mantel will ich dir sein
sanft hüllt meine Liebe dich ein
und führt dein Weg dich durch steiniges Land
ich halte dich fest in meiner Hand
auch stürmische Meere erschrecken dich nicht
ich bin dein Segel im Sonnenlicht
und findest du nachts nicht Rast noch Ruh
mein Stern am Himmel funkelt dir zu
wenn Zweifel und Angst deine Seele beschwert
dann hab ich längst schon dein Rufen gehört
ich werde über und unter dir schweben
ich bin die Kraft in deinem Leben
so lange noch Himmel und Erden bestehen
werd ich nicht von deiner Seite gehen
zu jeder Stund und zu allen Zeiten
wird dies Vermächtnis dich begleiten.

Monika A.E. Klemmstein

Gedanken im Jahr Zehn

Vollkommenheit ist offensichtlich nicht dann erreicht,
wenn man nichts mehr hinzuzufügen hat,
sondern wenn man nichts mehr wegnehmen kann.

Antoine de Saint-Exupéry

Ich lese ein wenig in der Zahlensymbolik: Wenn das Jahr Neun „nahe an der Vollkommenheit“ – aber noch nicht die Vollkommenheit selbst war, so bin ich nun in dieser Vollkommenheit angekommen: „Seit Alters her wurde die Zahl Zehn geehrt, denn dieses ist die Zahl der Finger, dran wir zählen, sagt Ovid. Zehn symbolisiert die Einheit in der Vielfalt, die Vollkommenheit, das abgerundete Ganze“.Und wenn ich dort lese, dass die Zahl elf die „stumme Zahl“ ist, dann greift dies meine Gedanken auf, dass dies Jahr  Zehn die ersten und sicherlich wichtigsten Jahre der Trauer abrundet und nicht mehr viel hinzugefügt werden kann, was in diesen Jahren nicht bereits gedacht wurde.  Aber versprechen kann und will ich dies nicht!

Die Welt treibt fort ihr Wesen,
Die Leute kommen und gehen,
Als wärst du nie gewesen,
Als wäre nichts geschehn.

Joseph von Eichendorf
für seine Tochter Anna, die mit nur 2 Jahren am 24.3.1832 starb.


"Die Welt der Lebenden ist eine Welt, in der nur ungenügend achtgegeben wird. Es ist klar, dass die Toten hier nichts mehr zu melden haben. Niemand sieht mehr, was sie gesehen haben. Es gibt zu wenige Stellvertreter, jeder ist zu sehr davon in Anspruch genommen, selbst zu leben, als dass er für einen anderen, für zwei sehen könnte“.

Thomése,  „Schattenkind“

 

15.12.2009

Geliebter Florian,
…je mehr Zeit vergeht, je weniger  ich mich gegen sie stemme, desto mehr  habe ich die Rolle Deiner „Stellvertreterin“ eingenommen:  Ich sehe und lebe für zwei – ich lebe Dein Leben in mir weiter – lasse Dich mit meinen Augen sehen und versuche, die Welt mit Deinen zu betrachten. Ja, vielleicht ist alles deshalb oft so schwer – gerade dann, wenn es so schön zu sein scheint. Aber, wie sonst soll ich Dich denn weiterleben lassen?
Vieles hat sich verändert – aber was bleibt, ist der häufige Blick zurück und mein Herz verfängt sich in Bildern: Diese Früchte pflücke ich gern vom Baum der Erinnerung in mein Herz, das liebend durch das Fenster in die Vergangenheit schaut.
ch habe es in den letzten Wochen ganz konkret werden lassen, Florian, in dem ich „Bücher der Erinnerung“ angelegt habe – Bücher aus unserem vergangenen, gemeinsamen Leben: Bücher mit Deinen Fotos, Briefen, Zeugnissen, Reliquien Deines Lebens – bevor sie verloren gehen. Es war Herzensarbeit – manchmal so schön, dass ich vor Glück und Nähe zu Dir mich von dieser Arbeit über viele Stunden nicht mehr lösen konnte – diese  Nähe nicht loslassen wollte – und manchmal, je näher ich unserem Abschied kam – so schwer, dass ich in Tränen badete.  Es sind die Bilder von Irland – ein Wundertraum, den Du gelebt hast und mit in  Deine neue Welt genommen hast und der dieses Land auch für uns in ein ganz neues Licht gehüllt hat. Vielleicht ist meine Sehnsucht nach Irland auch Deine unsterbliche Erinnerung. Ich werde noch ein wenig Zeit vergehen lassen, bis ich mich diesem – sicherlich wichtigsten Teil Deines Lebens widme.

Manchmal habe ich solche Angst, die inneren Bilder könnten nicht nur verblassen, sondern ganz verloren gehen, Deine Stimme könnte noch weiter weg rücken und Dein Lachen in mir erlöschen. Noch schließe ich die Augen und sehe Dich und höre Dich, vor allem Dein ansteckendes Lachen. Vielleicht ist es ja gar nicht möglich, dass wir Eure Stimmen vergessen. Vielleicht gibt es in uns einen Ort, wo sie eingeschlossen sind – den wir auch nach noch viel mehr Jahren öffnen und besuchen können. Ich wünsche es mir so sehr!...“

Flo

Ein wunderschönes „Zufallsfoto“ von Florian

Marie von Eber-Eschenbach schrieb: „Beim Tode eines Menschen schöpfen wir eine Art Trost aus dem Glauben, dass der Schmerz über unseren Verlust sich nie vermindern wird“.

Und Lea Berger: „Unser Leben ist ein Roman –nur in Bruchteilen von uns entworfen, erdacht, die meisten Kapitel schreiben wir immer wieder um, Zufälle, Zwangsläufigkeiten machen es notwendig.
Bestimmte Bilder werden wir niemals los, andere werden sich einstellen. Die Seitenzahl bleibt ungewiss, entzieht sich unserem Willen. Am Ende steht aber vielleicht ein gelungenes Werk, das von zerstörtem und wieder gefundenem Glück erzählt, von der Weisheit, die das Unerwartete und auch der Schmerz bereithalten können: Das Leichte ist ohne das Schwere nicht möglich.“


Sein Leben mussten wir loslassen,

in unserem Leben halten wir ihn fest

Wir müssen nicht lernen, „loszulassen“ – wir müssen lernen sein zu lassen  - auch uns selbst eines Tages  - und mit den Jahren zieht unser Wesen mehr und mehr auf die „andere Seite", was uns aber nicht dem Leben abgewandt machen darf. Nie würden  das unsere Toten wollen...

Man weiß nie, welche Kraft die Quellen des Lebens haben.
Doch leben heißt, die Mauern zu überwinden wagen,
die man vor sich selbst errichtet.
Heißt wagen, die Grenzen zu überschreiten,
die man sich setzt.
Leben heißt immer darüber hinausgehen


Ich denke im Rückblick, dass in den Jahren eine Balance entstanden ist zwischen dem rückwärtigen  und dem gegenwärtigen Leben. „Leben heißt immer darüber hinausgehen“… Ich habe die gestellten Aufgaben nicht alle erfüllen können und auch nicht wollen. Auch diese Erfahrung war wichtig und auch meine  Gesundheit hat mir manchmal Grenzen gesetzt.
Wenn ich in den Spiegel sehe, erschrecke ich oft. Ich bin alt geworden, älter als meine Freundinnen, die das gleiche Alter – aber ein anderes Schicksal – haben. Ich sehemein durchfurchtes Gesicht, den Spiegel meiner Seele. Falten sind wie Narben und Narben erzählen etwas. Sie erinnern an Menschen, an Orte, an Unglücke. Sie sind der Beweis dafür, dass man eine Geschichte hat, der Beweis dafür, dass Verletzungen heilen können. Narben sind überstandener Schmerz, Zeugnis von ertragenem Leid.

alte Hände

Wenn die Trauer, wenn die Bilder unserer geliebten Menschen, die der Tod uns nahm, uns zunächst völlig besetzen, jeden Gedanken, wir jede Sekunde des Lebens mit diesen Bildern verbringen, sie uns begleiten, ob wir es wollen oder nicht, so nimmt mit den Jahren das Leben von uns Besitz und verdrängt diese nahen Erinnerungen. Es ist, als lege sich eine zweite Haut über die tiefe Wunde und schützt uns nicht nur vor dem Schmerz, der oft unerträglich ist, sondern dieser Schutzfilm Leben drängt die Bilder  und die Erinnerungen zurück.  Das Leben ist stärker als der Tod!

In der Nacht zum heiligen Abend entstand folgender Text:
Ich habe einen Gedanken, den ich festhalten möchte – einen Gedanken, der vielleicht mehr als anderes den „Verlust“ erklärt.
Ich hatte einen Streit, die Tage vor Weihnachten waren voller Unstimmigkeiten und ich zog mich zurück... wollte alleine sein mit mir, mit meiner Enttäuschung.
Ich ging in meinen inneren Räumen auf und ab, unruhig, verwirrt, traurig und ich suchte nach dem Raum, der mir meine Ruhe zurückbringen könnte… und mit einem Male war mir unglaublich schmerzhaft  bewusst, dass dieser Raum, der Raum des Lichts, der Freude, der Vertrautheit leer steht.

Es ist der Raum, in dem ich Florian besuchte, als er noch lebte.  Ich erinnerte dieses Gefühl, wann immer ich traurig war, mich etwas irritierte, verärgerte, ich mich unverstanden fühlte, gekränkt -  dann suchte ich diesen Raum in mir auf: dort war mein Sohn, das Liebste, was ich auf dieser Welt hatte – und ich führte mit ihm den inneren Dialog. Ich erzählte ihm und ich wusste jederzeit, dass ich ihn erreichen könnte, würde ich es wollen. Meist reichte dieses innere Gespräch – manchmal rief ich ihn an und wir sprachen miteinander.  Auch, wenn er nicht immer Rat wusste – darum ging es nicht. Es war die emotionale Sicherheit, die er mir gab. „Du bist da, Florian, ich kann dich erreichen, wenn ich dich brauche, wenn mein Herz nach dir ruft- dann bist du da“…


Dieses Aufsuchen dieses inneren  Raumes war so selbstverständlich –  und diese Leere zu spüren brach mir heute fast das Herz. So deutlich ist mir seit langem nicht bewusst gewesen, wie unbewohnt ich mich fühle  - wie brach ein Teil meines Inneren liegt – verwüstet und nichts, was dort wachsen kann.
Die Liebe zu meinem toten Sohn hat andere Räume. Auch sie suche ich auf – auch dort führe ich das Zwiegespräch – aber immer im Bewusstsein, dass Florian tot ist… Das ist nicht vergleichbar mit dem Gefühl, das für immer verloren ging.

Florians Pullover

Florians Pullover, die ich jeden Sommer an der Sonne lüfte

Nicht vorüber

Was vorüber ist
Ist nicht vorüber
Es wächst weiter
In deinen Zellen
Ein Baum aus Tränen
Oder
Vergangenem Glück


Rose Ausländer


„Es war eine lange, beschwerliche Wanderschaft, bis wir endlich einen Ort relativer Seelenruhe erreichen. Doch einmal angekommen, verspüren wir Erleichterung und Befreiung von unserer größten Verzweiflung.  Der Tod eines Menschen, den wir liebten, ist nicht etwas, worüber man jemals „hinwegkommt“. Doch wenn wir uns durch die Trauer durchgearbeitet haben, uns Zeit gelassen haben, den Schmerz zu fühlen und unser Leben aus dieser veränderten Perspektive betrachten, dann können wir endlich akzeptieren, was uns widerfahren ist.  Das ist das Geschenk, das wir uns selbst gemacht haben, indem wir die Trauer angenommen haben, sie durch gestanden haben, anstatt sie zu leugnen oder sie in etwas verwandelt haben, das nicht existiert.

Wer vor seiner Trauer davonläuft, wird niemals inneren Frieden finden. Doch weil wir uns unserem Verlust gestellt haben, ist es uns nun möglich, ein Leben frei – oder zumindest relativ frei – von innerem Konflikt zu leben. „Ich kann jetzt an sein Grab gehen mit Blumen und mit Frieden im Herzen anstatt mit Blumen in der Hand und Dornen im Herzen.

Weil ich mich meinem Verlust ausgesetzt habe, ist es mir gelungen, Frieden zu finden. Wenn auch noch nicht heute, so wird es mir doch eines Tages in der Zukunft möglich sein, meinen Schmerz zu akzeptieren. Ich werde es mir zum Ziel setzen. Jetzt beglückwünsche ich mich, dass ich so weit gekommen bin, die ganze Spannweite der Gefühle und Zustände, die mit meiner Trauer einhergehen, zu ertragen.“

Carol Staudacher
,  "Tage der Trauer, Tage der Heilung"

Florian uns Gabi

Raum der Hoffnung

Ich glaube, dass alle Menschen, die große Schmerzen erlebt haben und es ausgehalten haben, sie bewusst zu betrachten und sie für diese Zeit der Betrachtung in ihrem unermesslichen, eigentlich mit Worten nicht zu beschreibenden, fast vernichtendem Ausmaß zu spüren, an der Stelle, wo es nicht mehr weiter geht, um nicht tödlich zu sein, an einen Wendepunkt gelangen. Erst wenn man dem Schmerz ohne zu stocken unaufhaltsam in die Tiefe gefolgt ist und nichts anderes mehr zu sehen und spüren ist, öffnet sich schlagartig, ja fast mit der Kraft einer Explosion - so als wenn es gar nicht anders möglich wäre - der Raum der Hoffnung. In diesem Raum ist der Aufenthalt so beglückend, so voller Zuversicht und beruhigender Gewissheit und das Erleben dort ist genauso intensiv und eindrücklich, wie zuvor der Schmerz.
Solche Erlebnisse sind Kraft zehrend und Energie spendend zugleich, und eine friedvolle Erschöpfung macht sich breit.

Die Erinnerung an das Durchlebte ist unauslöschbar. Dieser Prozess des Durchlebens wird sich wiederholen, der Schmerz kommt wieder, stark und gut ausgeruht, die Ahnungslosigkeit mit Schrecken zu überrollen, oder etwas weniger intensiv, vielleicht sogar leise; er überschattet die Hoffnung; die Hoffnung durchbricht die Macht des Schmerzes, lässt heilende Gefühle wachsen.
Jede Wiederkehr kann etwas verändern, vielleicht etwas mildern.
Ich wünsche mir, dass ich beides spüren kann, den Schmerz und die Hoffnung, mal mehr und mal weniger stark. Und dass ich den Raum der Hoffnung immer finde oder  mich an seinen Aufenthalt dort erinnere.

Wer Schmerz empfunden hat, hat Heilung verdient.

Wenn ich mir die weitere Zukunft vorstelle, könnte sie so aussehen:
Der Schmerz ist noch immer da, aber im Laufe der Zeit zu einem melancholischen Fantasieren und wehmütigem Heraufbeschwören von Bildern meines erwachsenen Sohnes geraten, zu stummen Zwiegesprächen und entrückten Nachmittagen über Fotos und Kinderzeichnungen. Nie wäre ich wunschlos glücklich, aber noch weiter entfernt von Hoffnungslosigkeit.  Ich werde leben, reisen, höre Musik, lese Bücher und habe meinen geliebten Mann, meine Freunde und  meine Enkelkinder, auch wenn ich sie nur als Leihgabe des Himmels betrachte.

„Dort oben werden wir gehen, du und ich;
die Milchstraße entlang werden wir gehen, du und ich;
auf dem Blumenpfad werden wir gehen, du und ich;
wir werden Blumen pflücken auf unserem Weg, du und ich“.

Wintu-Indianer




Wir sind in unsren Wänden gefangen, die vielleicht dünner sind, als wir glauben. Manchmal mauern unsere Tränen die Fenster zu -  manchmal sind sie es, die die kleinen Tore öffnen, hinter denen dies andere Leben ist, das uns verloren ging.
Unsere Toten leben in einer anderen, transzendenten Welt, sind angekommen an dem Ort, wo sie für immer bleiben können. Sie sind aufgehoben im großen Ganzen.


Von der Ewigkeit

Aus der Zeit wollt ihr einen Strom machen, an dessen Ufern ihr euch niederlasset, um ihn im Vorbeifließen zu überwachen.
Doch das Zeitlose in euch weiß um die Zeitlosigkeit des Lebens,
Und es weißt, dass Gestern nur die Erinnerung an Heute ist, und Morgen nur der Traum von Heute,
Und das, was in Euch singt und sinnt, immer noch verweilet in den Grenzen jenes ersten Augenblickes, der die Gestirne in den Raum gestreut.

Khalil Gibran, Prophet, 47

An der Seite des Todes steht das Leben.

„Der Tod ist Ursprung und Mitte der Kultur“, schreibt Jan Assmann. „Der Tod und das Bewusstsein der Endlichkeit gehören zum Leben, und auch die Hoffnung darauf, dass etwas bleibt von der gelebten Zeit, so wie die Toten in Erinnerung bleiben durch sichtbare Zeichen in Bild und Schrift, dass es nach der „Zeit“ etwas gibt, eben „die Zeit danach“, in der die Lebenden für die Toten sorgen, ihnen würdige Ruhestatten richten, die der Nachwelt vielleicht etwas über das Leben und die Hoffnungen des Verstorbenen mitteilen“.

Köpenick im Winter

Berlin, Januar 2010