Anfangs scheinen die Toten
Nicht gar so weit entfernt.
Ihre Wiederkehr scheint möglich
So manches inbrünstige Jahr.

Und dann wird, dass wir ihnen folgten,

Mehr als nur wahrscheinlich,
So nah ist die Erinnerung
Jetzt an ihr liebes Bild.

Emily Dickinson

Gedanken im Jahr Vier

Es ist der Sinn
meiner Existenz, dass das
Leben eine Frage an mich hat.

C.G. Jung
Erinnerungen 320


Auf meinem Schoß liegt eine Hose, eine hellbraune Sommerhose, die Hose, die Florian trug, als er starb. In meinen Händen halte ich einen Geldbeutel – Florian’s Geldbeutel, beides wurde mir – mit einigen anderen Dingen aus seinem Nachlass - vor einigen Tagen aus Irland gebracht.
Die Hose, die er trug, als er die Welten wechselte, sie ist nicht nur eine Hose. So lange habe ich auf die Kleidung gewartet, die seinem Körper Hülle war, als er dort auf der Treppe in Dublin lag – nun ist sie Symbol seines Übergangs, ganz konkret fassbare Reliquie.
All diese Gegenstände, sie berühren mein Herz so tief und machen mich unendlich traurig. „Es hat Dich gegeben, mein geliebter Sohn – viele kleine Dinge liefern mir immer wieder Zeugnis dieses unvollendeten Lebens“.... und es schmerzt und ich bin voller Sehnsucht.

Florian’s Geldbeutel enthält seinen Ausweis, Passfotos, in Irland aufgenommen und ein Foto von Florian und Eimear. Beide lachen in die Kamera... „Seht nur, wie verliebt wir sind und wie glücklich“! Visitenkarten, Eintrittskarten, Bustickets aus Berlin. Alles in diesem Geldbeutel weist darauf hin, dass Florian gerade erst aus Deutschland zurückgekehrt war...

Es brach mir das Herz, als ich seine Bordkarte fand: Virgin-Flug von Shannon nach London am 5. Juni 2000, seat 24 A... Am 6. Juli 2000 kehrte er mit Virgin in seinem Sarg zurück. Sein Impfbuch ist dabei und eine Art Tagebuch mit vielen, sehr unterschiedlichen Aufzeichnungen. Mir wird noch einmal bewusst, wie bewusst Florian gelebt hat, wie ordentlich und gewissenhaft er war: Dort sind Kochrezepte, Fahrpläne abgeschrieben, Ankunfts- und Abflugzeiten seiner Freunde, als sie ihn in Irland besuchten. Dort lese ich Gedichte und Sätze, die er sich aus Büchern abschrieb... aber auch Tabellen von irischen Footballspielen und der Bundesliga, Protokolle von Sitzungen in Camphill.
Eines der Gedichte hat mich besonders tief berührt. Es ist, als habe Florian tief in seinem Inneren verborgen, diese ferne Ahnung gehabt, dass seine Erdenzeit bemessen ist.

Florians Kleidung

The Valley Wind
Living in retirement beyond the world
Silently enjoying isolation
I pull the rope of my door tighter
And stuff my windows with roots and ferns
My spirit is tuned to the Spring-Season:
At that fall of the year there is autumn in my heart.
The imitating cosmic changes
My cottage becomes a Universe.

By Lu Yun (4. Cent.)


Wie viele Dinge von Florian sind noch dort in Irland? Irgendwann werde ich alles um mich herum haben, was Florian hinterlassen hat, und dann?

Eimear ist für ein Jahr in Spanien und lebt dort mit ihrem Freund. Wir sind noch immer – relativ sporadisch – im Kontakt. Ich bin sehr froh und dankbar für diesen dünnen Faden, der uns noch immer verbindet.

„Gibt es noch einmal eine Veränderung im Jahr Vier?“ fragte mich kürzlich eine Freundin und ich musste innehalten und überlegen. Ja, es gibt Veränderung, es gibt längere Zeiten der Abwesenheit von tiefem Schmerz. Die Normalität des Lebens hat sich breiter gemacht, verdrängt damit aber auch die spirituellen Räume – und dies empfinde ich als großen Verlust.
Ich vermisse die himmlischen Winde, spüre Florians Flügelschlag seltener... und seine kleinen Zeichen – noch sind die da, dann wenn ich sie brauche, nicht wenn ich danach suche.
Aber das ist immer so gewesen. Hat man sich an die Magie im Leben gewöhnt, oder hat die Suche nach ihr aufgehört? Die Träume, ich vermisse sie sehr. Seltener ist Florian zu Gast in den Nächten, dem Leben fehlt die Ruhe und somit die Tiefe, die nur in der Stille erfahrbar war.
Ich bin sensibler geworden, hellhöriger und empfindsamer für die leisen Töne des Lebens.

Ich hadere wieder einmal mit dem Begriff „Zeit“, erlebe sie als trennend, als wegführend von meiner ganz tiefen Nähe zu Florian.  Der Verlust der Nähe, der Geruch des anderen, den wir in seiner Kleidung suchen und nicht mehr finden, die Stimme, wie ein entferntes Echo, das Lachen, das wir uns zurückholen müssen. Vor einiger Zeit stand es noch im Raum... die letzte Umarmung...

Rückert schreibt in einem seiner wundervollen traurigen Gedichte:

Über alle Gräber wächst zuletzt das Gras,
Alle Wunden heilt die Zeit, ein Trost ist das,
Wohl der schlechteste, den man kann erteilen;
Armes Herz, du willst nicht dass die Wunden heilen.
Etwas hast du noch, solang es schmerzlich brennt;
Das verschmerzte nur ist tot und abgetrennt


Warum scheint es so schwer zu verstehen, dass viele Trauernde dieses Loslassen als Abtrennung vom geliebten Menschen nicht wollen. Niemand konnte mir in diesen Jahren verständlich erklären, was mit diesem „Loslassen“ überhaupt gemeint ist. Manchmal habe ich die Befürchtung, als diene diese Aufforderung an Trauernde nur der „Bequemlichkeit“ dieser Gesellschaft, sich nicht mehr mit der Trauer dieser Menschen beschäftigen zu müssen...

Ich erinnere mich, als Eimear in einem Gespräch sagte: „...und stell’ dir vor, in einem Jahr sagst du: Als Florian letztes Jahr kam...“ und ich erinnere das Jahr 2001 und ich spürte, wie nah die Erinnerungen rückten: ich konnte sie anfassen, ich konnte jeden Tag des vergangenen Jahres mit Florian und Eimear noch einmal erleben. Und heute? Ich schaue in den Kalender aus dem Jahr 2000 und suche die Eintragung: „Montag, 5. Juni 22.30 Uhr Flo + Eimear“ und ich spüre, dass diese letzten gemeinsamen Tage nun „Erinnerungen“ geworden sind. Ein große Veränderung, die leidvoll ist.

Mit Trauer zu leben ist mit Amputation zu leben: egal was man tut, egal ob man fröhlich ist oder traurig, man ist und bleibt immer amputiert... Es ist ein Zustand, der nicht rückgängig zu machen ist, es ist etwas abgetrennt, das nicht nachwachsen kann. Ich habe noch immer diese fürchterlichen „Phantomschmerzen“, diese brennende Sehnsucht nach Florian, als einem Teil von mir selbst, weggerissen von meiner Seite, herausgerissen aus unserer Welt. Nichts und niemand vermochte in diesen Jahren wirklich Trost zu spenden.
Vielleicht habe ich im Jahr Vier gelernt, meine Untröstlichkeit und meine Fragen auszuhalten
oder wie Kafka sagte: „Wer die Fragen nicht beantwortet, hat die Prüfung bestanden“.
Früher hatte ich eine Vorstellung, wie dieses Leben weitergehen könnte, früher hatte mein Leben Zukunft. Nun weiß ich weder wohin ich gehe, noch wann ich dort ankommen werde.

Ich bin aber auch geduldiger geworden, ich kann Lebensfreude wieder spüren, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Die Trauer ist nun tief in meiner Persönlichkeit verankert und steht nicht wie etwas Fremdes neben mir. Ich habe sie zu meiner besten Freundin gemacht, ich brauche sie, denn sie ist die Fortsetzung meiner Liebe zu Florian. Würde ich die Trauer verlieren, verlöre ich die Liebe – und ohne sie ist ein Leben nicht denkbar. Manchmal verspüre ich eine Leichtigkeit, als würde Florian mich mit seinen Flügeln anheben: „Sieh nur Mom, wie schön das Leben ist. Begreife es als ein unermessliches Geschenk“.

Vielleicht ist das beste am Verrinnen der Zeit, dass sich der Abstand zwischen unserem Wiedersehen mit jedem vergangenen Tag verringert!

Florian

Auch im Jahr Vier bin ich Suchende, als könne irgendwo verborgen die Antwort auf alle meine Fragen doch noch auftauchen. Ich sehe mir immer wieder Filme an, die Florian sah und suche nach Botschaften. Ich lese Bücher, die er las und hoffe auf Antwort.
Ein Film, der mich immer wieder berührt ist „Message in a bottle“... Florian hatte mich auf diesen Film, den er sich mit Eimear angesehen hatte, hingewiesen. Heute fand ich im gleichnamigen Buch folgenden Absatz:

„Ich weiß nicht, ob die Toten auf die Erde zurückkehren und sich unbemerkt von denen, die sie lieben, umherbewegen können, aber wenn sie es können, dann weiß ich, dass du immer bei mir sein wirst. Im Rauschen des Meeres werde ich deine Stimme vernehmen, in jedem Windhauch wird dein Geist meine Wange liebkosen. Wer auch immer in mein Leben treten wird, du wirst stets bei mir bleiben. Dein Geist wird mich in eine mir noch unbekannte Zukunft begleiten.
Dies, mein Liebling ist mein Dank an dich. Ich danke dir, dass du mein Leben bereichert hast, dass du mich geliebt und meine Liebe angenommen hast. Danke für die Erinnerungen, die ich stets bewahren werde....“

Dankbarkeit zu empfinden, ist eine große Gnade, die uns nicht zufällt. Dankbar zu sein, für das was war, das Erlebte, die gemeinsame Erdenzeit als ein Geschenk zu betrachten, ein Geschenk, das uns nur befristet gegeben war. Es nicht behalten zu dürfen, das ist kaum zu ertragen und das Erinnern - so schön und wertvoll es auch ist – es bleibt auch immer schmerzvoll!


Erinnern, das ist vielleicht die qualvollste Art des Vergessens
und vielleicht die freundlichste Art der Linderung dieser Qual

(Erich Fried)

Florian und Gabi

Mir ist in diesem Jahr noch bewusster geworden, worin mein Leben nun besteht:
Da zu sein, um Beweis zu geben, dass Florian gelebt und seine Spuren hinterlassen hat. Für sie, die Zeitlosen, ist unser schwerer Gang durch dies restliche Leben nur einen Atemzug lang. Wir hingegen haben Verantwortung unseren Lebenden gegenüber, müssen aushalten und unserem neuen Leben Sinn geben. Zu Geben kann eine meiner Aufgaben sein und ich spüre, dass ich viel zu geben habe: Liebe, Mitgefühl, Erbarmen und die Bereitschaft, das Leiden anderer Menschen mitzufühlen.

Denen treu bleiben, die gestorben sind,
heißt, so zu leben, wie sie gelebt hätten.
Und sie in uns leben lassen.
Und ihr Gesicht, ihre Stimme, ihre Botschaft
anderen bringen.
Einem Sohn, einem Bruder oder Unbekannten,
anderen, wer immer sie sind.
Dann wird das Leben, wenn auch vom Tode verstümmelt,
immer weitergehen, von neuem erblühen

(Martin Grey)


Florian, der „Menschenfischer“ schickt immer wieder neue Menschen in mein Leben und ich bin dankbar, dass sie mir ihr Vertrauen schenken und ich weiß, dass jeder Brief, den ich an einen „fremden“ Menschen schreibe, Florian mit einschließt.

In wenigen Wochen ist Florian’s vierter Todestag – unvorstellbar, unvorstellbar!

Ein Satz fiel mir zu, den ich ihm zu diesem Tag widmen werde:

Ich werde still sein, doch mein Lied geht weiter.

Mascha Kaléko
(Die paar leuchtenden Jahre)


Nichts ist jemals wieder geworden, wie es war!


Gabriele Gérard im Mai 04