XCIV


Sterb ich,
so überlebe mich mit all deiner reinen Kraft,
daß du den Zorn der Blässe erweckst,
der Todeskälte,
von Süd hin zu Süd,
erheb deine unauslöschlichen Augen,
von Sonne zu Sonne tönen
soll dein Gitarrenmund.
Will nicht,
daß dein Lachen noch deine Schritte zögern,
will nicht, daß meiner Freude Vermächtnis stirbt,
rufe nicht meine Brust,
ich bin fern.
Lebe in meiner Abwesenheit wie in einem Haus.
So groß ist das Haus der Abwesenheit,
daß du in ihm durch die Mauern gehst
und die Bilder aufhängen wirst
in der Luft.
Ein so durchsichtiges Haus ist die Abwesenheit,
daß ohne Leben ich dich leben sehn werde,
und leidest du,
meine Liebe,
werde ich nochmals sterben.


Pablo Neruda



Aus dem wogenden Meer der Menge

Aus dem wogenden Meer der Menge
sprang ein Tropfen lieblich zu mir,
flüsternd: „Ich liebe dich, ich vergehe bald,
weither bin ich gereist, einzig um dich zu sehen
und dich zu berühren,
denn ich konnte nicht sterben
ehe ich dich nicht einmal sah,
denn ich fürchtete dich hernach zu verlieren“.
Nun haben wir uns getroffen und uns gesehen.
Nun sind wir geborgen.
Kehre in Frieden zurück in das Meer, mein Geliebter,
auch ich bin Teil dieses Meeres, mein Geliebter,
wir sind nicht so sehr von einander getrennt;
sieh das erhabene Rund, den Allzusammenhang, wie vollkommen!
Dich und mich ist die unwiderstehliche See bestimmt zu trennen,
für eine Weile uns auseinander zu tragen, doch nicht für immer:
habe Geduld – eine kleine Spanne – wisse, ich grüße die Luft,
das Meer und das Land
jeden Tag bei sinkender Sonne um deinetwillen, Geliebter.


(Walt Whitman, 1819 – 1892)

Gedanken im Jahr Fünf

Making the decision to have a child – is momentous.  It is to decide forever to have your heart go walking  around outside your body  (Elisabeth Stone)

Heute ist Dienstag, der 19. Juli 2005. Das „Jahr Sechs“ hat bereits begonnen. Ich sitze in Florians Zimmer. Um mich herum türmen sich Briefe, Bücher und in mir türmen sich Gedanken, die zu Papier gebracht  werden wollen.  Ich möchte versuchen, auch das vergangene Jahr zu skizzieren – Gedanken im Jahr Fünf; ich möchte der Trauer, aber auch der Veränderung Raum geben und ich beginne  mit zwei Briefen, den ich im Januar 2005 an Florian geschrieben habe:

1. Januar 2005

Es gibt Momente tiefster Unsicherheit.
Das ganze Leben scheint dann gefährdet zu sein.
Alles ist so vorläufig, sehr zerbrechlich
Und vergänglich. Daran leide ich.
Aber gerade das Leiden an diesem Zustand
öffnet mich für die Zartheit des Lebens.
Weil ich überhaupt spüre,
Spüre ich auch die Zerbrechlichkeit.
Weil ich um den Tod weiss
erfahre ich das Leben dichter.
Würde ich mich verschanzen
Hinter Systemen und Sprüchen,
Würde ich mich auch meinen feinen Regungen
Und Reaktionen auf die Welt um mich verschließen.
Es ist der Preis der Empfindsamkeit
Und des Lebendigseins:
Darum denke ich bewusst an den Tod;
Ich will mit meinem Geist, mit meiner Seele
Und mit den Zellen meines Körpers wissen,
Dass ich sterblich bin, damit ich weise werde.
Ich will mich nicht vom Leid lähmen lassen,
Sondern es einsetzen auf meinem Weg in die Reife.

Ulrich Schaffer, Lesebuch "Manchmal bin ich hautlos", Über die Verletzbarkeit


Mein geliebter Florian,
mit diesem Gedicht beginne ich ein neues Jahr, das heute wie eine weiße Landkarte vor mir liegt... noch niemand hat sie erkundet, keine Spuren, keine Entragungen. Neuland. Wie wird diese Karte am Ende des Jahres aussehen, geliebter Florian? Welche Spuren werde ich einzeichnen – Berge, Täler? Wie wird unser Leben im vor uns liegenden Jahr verlaufen?  Welche Veränderungen liegen vor uns?

Welche Freuden erwarten uns?  Das alte Jahr hat sich geschlossen und ich denke – zurückblickend – es war ein gutes Jahr, aber es war auch ein Jahr, dessen Tage an mir vorbeiflogen – keine großen Höhen, viele Tiefen.  Weihnachten, es war das schwerste seit Deinem Gehen, Florian. Die Sehnsucht nach Dir, die Sehnsucht nach einem vollkommenden Dasein war kaum mehr zu ertragen:  Ich sehnte mich mit einen ursprünglichen Verlangen und einem wütenden Instinkt nach etwas von dem ich weiß, dass ich es nie mehr haben würde – und mein Herz brach tausendfach und wieder einmal war ich erstaunt, wie viel Schmerz man zu ertragen in der Lage ist.
Nun versuche ich, mich zu erholen, meinen Blick wieder nach außen zu richten und mich den Anforderungen zu stellen, die das Leben sonst noch für mich bereithält. Nein, Florian, es ist kein einfaches Leben mehr und manchmal reichen die Kräfte kaum aus. Mich nicht von Leid lähmen zu lassen, eine meiner Aufgaben in diesen ersten Tagen eines neuen Jahres...das Leid einzusetzen auf meinem Weg der Reife... wie einfach es in einem Gedicht klingt....

 

2.1.2005

Geliebter Florian,
die Ruhe kehrt zurück und gestern, als ich in meinem Zimmer lag, meine Gedanken fest und innig an Dich richtete, da hatte ich das Empfinden, als schlüge meine Liebe wie Wellen an Deinen Strand, unaufhörlich und für alle Zeiten. Es war ein so friedvolles Bild in mir. Mir war mit einem Male bewusst, dass nichts etwas an dieser Tatsache zu ändern vermag: so, wie das Meer in Wellen am Ufer ausläuft, sich zurückzieht und von neuem zurückkehrt – so wird es mit unserer Liebe sein – so lange ich lebe.... Und dieses Wissen gab mir wieder eine tiefe Zuversicht und Hoffnung, dieses Leben bewältigen zu können – und ein gutes Leben daraus zu machen.

Ich kann wieder mit Dir sprechen – und ich kann Deine Antworten auf meine Fragen hören:
„Lebe dein eigenes Leben, geliebte Mom. Es ist dir geschenkt, jeder Tag ist wertvoll und ist dir zur Gestaltung übertragen. Genieße und kreiere deine Tage – mache gute Tage aus ihnen. Die Landkarte, die noch unbeschrieben ist, soll am Ende des Jahres üppig und voller bunter Bilder sein.... Laß den Schmerz nicht mehr so groß werden, das Leid nicht mehr so tief. Es kostet zuviel Kraft. Denk an dich, denk an Hans-Jürgen, denk an eure Liebe. Ich bin immer bei euch. In jedem Moment, unsichtbar und doch spürbar, denn ich liebe euch sehr und ich werde euch auch in diesem Jahr meine kleinen Zeichen schicken, solltet ihr an meiner Anwesenheit zweifeln. Du bist meine Mom, Gabi, du wirst es immer sein. Hab keine Angst, dass ich dich nicht mehr brauche. Ich brauche dich nur anders. Du hast soviel zu verschenken, so viel Liebe, soviel Fürsorge. Geize nicht damit... gib sie denen, die das Leben schlecht behandelt hat. Du hast mir Liebe und Zuwendung im Überfluss geschenkt. Nun brauche ich sie nicht mehr. Ich brauche deine Loyalität, deinen Glauben in meine Unsterblichkeit und unsere unverbrüchliche Liebe
..."

Ja, mein Sohn, ich vernehme das, was Du mir sagen willst und ich tröste mich damit.  Ich gebe Dir das Versprechen, im vor mir liegenden Jahr besser für mich zu sorgen und auf mich aufzupassen und mir Gutes zu tun. Danke, dass Du da bist, danke, dass Du zu mir sprichst. Ich liebe Dich – ohne Anfang und ohne Ende.

Deine Mom


Irland

Das Schreiben, das Schreiben meiner Briefe an Florian  bedeutet mir noch immer sehr viel. Der innere Dialog mit ihm ist nie abgerissen. Ich spreche mit ihm, wann immer ich das Bedürfnis habe und seine Antworten bilden sich in meinem Herzen.

Florian 1999

 

Am Herdfeuer der Seele

Bei O’Donohue, in der irischen Philosophie und Mythologie finde ich Gedanken, die mir inneren Frieden geben:

"...Trauer ist die Erfahrung, sich im leergewordenen Raum wiederzufinden, allein und mit bloßliegenden wunden Gefühlsbahnen...In dieser Zeit wird von uns verlangt, gegen den Gezeitenstrom unseres Lebens anzuschwimmen....Unsere Seele kreist friedlos um diesen inneren Tempel, in dem jetzt nichts mehr verbleibt als das traurige Echo des Verlustes....“

...von ihrer Seite aus halten unsere Freunde (Kinder) in der unsichtbaren Welt uns in der Umarmung ihrer neuen lichten Zugehörigkeit, auch ohne daß wir es merken. Wir sind stets in der schützenden Geborgenheit ihrer heimlichen Umarmung aufgehoben..

... Die Segnungen, nach denen wir uns sehen, sind an keinem anderen Ort und in keinem anderen Menschen zu finden. Nur unser Selbst kann sie uns gewähren. Sie sind am Herdfeuer unserer Seele zu Hause.

...Das Universum lädt uns förmlich von Natur aus dazu ein, uns auf die Reise zu begeben und es zu entdecken. Die Erde will, dass unser Geist aufmerksam zuhört und wachsam um sich blickt, damit wir ihre Geheimnisse erkennen und sie benennen können. Wir sind die Echo-Spiegel der kontemplativen Natur. Es ist eine unserer heiligsten Pflichten, offen zu sein für die feinen Stimmen des Universums, die in unserer Sehnsucht zum Leben erweckt werden. Aristoteles sagte, der Grund dafür, dass wir überhaupt etwas erkennen können, sei die -- innige und exakte -- formale Affinität, die zwischen uns und der Natur besteht.

...Es ist eine verlassene Erkenntnis, dass einzig das Leiden uns bestimmte Dinge lehren kann. Leiden.... hat teil am Wesen des Unendlichen.....Das Licht, das der Schmerz hinterlässt, ist ein kostbares Licht."

I would love to live
Like a river flows,     

Carried by the surprise
Of its own unfolding.

John O' Donohue

Es ist was es ist...

 

8.7.2004

Geliebter Florian,
eben ging ich durch den Garten – und überlegte mir, wie mein früheres Leben wohl an einem solchen Sommertag ausgesehen hat... und dann wurde mir bewusst, dass ich auch damals so oft in Gedanken bei Dir war – wie heute. Es waren andere Gedanken, mein Sohn, es waren glückliche Gedanken, manchmal vielleicht besorgte Gedanken, aber immer waren sie voller Hoffnung, voller Zuversicht und voller Liebe. Manchmal war ich so dankbar, dass es schmerzte: Da war Hanni hier bei mir, meine große Liebe und dort, in Irland warst Du, mein  Sohn... Ein so schönes, perfektes Leben.

Manchmal riefst Du auch in diesen Nachmittagsstunden an  und dann blieb ich mit dem Echo Deiner Stimme zurück – zurück in Gedanken an Dich, an Dein Leben, das immer so eng und fest mit meinem und mit unserem Leben verknüpft war und blieb. Du warst die Mitte unseres Lebens, Florian.

Weiterhin gehen meine Gedanken immer und immer wieder in Deine Richtung, nicht wirklich wissend, wo Du nun bist, aber fest daran glaubend, dass ich Dich erreiche, dass unsere Verbindung unauflösbar ist.

Der 1. Juli liegt hinter mir und dieses Jahr war schwerer, als die letzten Jahre. Es war weniger Hoffnung in mir, es war wie der Gang durch einen langen, dunklen Tunnel und ich fand kein Licht mehr, hatte immer mehr Angst, mich in den vielen Gängen zu verlieren, nicht mehr herauszufinden...und wusste zugleich, dass ich Dir hier nicht begegnen kann. Der Verlust, die unermessliche Sehnsucht danach, dieses vollständige Leben zurück zu erhalten, der Wunsch, Du mögest mich erretten und befreien aus diesem quälenden Labyrinth, dies stand im Mittelpunkt und nichts konnte mich trösten. Nein, mein Engel, ich spürte nicht die Liebe, ich spürte die Verzweiflung, war voller Wut und innerer Rebellion. Nicht einmal an Deinem Grab kam ich zur Ruhe.. Ich wollte Dich dort nicht wissen... einfach nicht realisieren, was seit VIER JAHREN Realität ist. Ein sinnloses Unterfangen, mein Sohn, und entsprechend groß die Verzweiflung, Verlorenheit, Isolation und Einsamkeit.  Manchmal glaubte ich, dies Leben einfach nicht mehr tragen zu können, keine Kraft mehr zu haben, neue Lebenspläne zu entwerfen, neuen Sinn zu suchen.... kraftlos und erschöpft.

Dann gestern, an dem Tag, an dem wir Dich zurück in den Schoß der Mutter Erde legten, hatte ich plötzlich, das Wort: "Passionszeit" in mir: heute ist das Ende meiner Passionszeit - dachte ich...heute ist das Ende der Tage, an denen wir  uns so schmerzlich erinnern und die uns immer wieder an den Anfang unseres Leides zurückführen, um im nächsten Jahr  alles wiederzufühlen und in den gleichen Kreis der Trauer und des Leides einzusteigen...

Ich habe keine Kraft mehr und Du, mein Kind bist nach Hause zurückgekehrt - für immer und ewig! Und in dieser Zeit der "Passion" sind der Tod und der Abschied im Mittelpunkt... und dann kommt eine andere Zeit.

Als ich aus den Häuschen kam und durch die Abendsonne durch den Garten lief, fand ich eine kleine weiße Feder....
Es geht mir heute besser - weil ich wieder bei mir bin. Ich bin aus der tiefen Melancholie heraus - und nun spüre ich wieder den Schmerz - aber auch die Liebe... Der Tiefpunkt meiner Verzweiflung liegt hinter mir. Nein, Florian, so geht es nicht und  "Ende der Passionszeit"... bedeutet nicht, die Trauer um Dich  nicht weiter zu leben...Sie hat viele Facetten - und einige sind auch "lebbar"... und ich muß für mich einen gangbaren Weg finden..

Ich liebe Dich Florian, von Herzen – ohne Beginn und ohne Ende!

Deine Mom


BLumen für Florian

Eine verwaiste Mutter legte zu Deinem Todestag Rosen auf die Treppe Deines Hauses in Dublin.

No Time to Say Goodbye

It was a phonecall in the night-
The kind you hear before it rings.
It was a phonecall in the night,
When you can hear an angel’s wings.
When you know before you answer
That it’s someone’s time to die,
And then I learned it was you,
And as I stood there I could feel you passing by-
There was no time to say goodbye.

There was no time to say goodbye;
No time to thank you for the years.
There was no time to say goodbye-
A lamp gone out, light disappears.
And as I stood there in the darkness,
There were more tears than I could cry,
For you were here so totally,
It seemed impossible that you could ever die-
There was no time to say goodbye

 

Wer die Fragen nicht beantwortet, hat die Prüfung bestanden….

(Franz Kafka)

Auch im Jahr Fünf bin ich Suchende geblieben…Suchende nach einer Antwort auf die brennenden Fragen, die mich manchmal  fast erdrücken. Ohne Antwort leben zu müssen, ohne den Sinn dieses Lebens zu verstehen – die Herausforderung an Trauernde. Und die vergehenden Jahre bringen uns dem Ziel näher, aber sie beantworten nicht!
Hier einige Gedichte und Gedanken, die mich berührt haben:

Ich lebe mit Fragen

Fragen über Fragen
auf die ich keine Antworten finde.
Warum?
Immer wieder warum?
Gott, ich fühle mich verlassen
- ja auch von Dir verlassen.
Mein Schreien nimmt kein Ende,
ich klage und finde keinen Frieden.
Gott, hilf mir,
lass mich deine Nähe spüren,
gib mir Kraft in meinen dunklen Stunden,
ich möcht' so gern den Morgen wieder sehen.

Amen

Carmen Berger-Zell

 



Trauer durchfliesst mich,
mündet in Schmerz.
Tränen ersticken Träume,
erdrosseln das Licht.
Doch Zuversicht keimt im Dunkel.

Gabriele Matzantk





Ich lebe mit Träumen

Hätte ich sein Begräbnis
geträumt,
wäre ich nicht mehr
aufgewacht.
Aber keiner meiner Träume
kam mir je
so grausam wie
die Wirklichkeit.

Deshalb wandelte
ich sie um
in einen Traum.

An diesem Tag
lieh ich meine Tränen
den anderen.
Schenkte ihnen dazu
mein Lächeln,
das auf meinem Gesicht
lag wie auf einer Statue.

Meine Augen
ließen nur ein Bild
hinein:
ihn, auf einer Wolke,
verständnisvoll und teilnahmslos
zugleich,
gefühlvoll und gefühllos
zugleich,
da und verschwunden
zugleich. Ich durfte mich zu ihm
setzen und schaute
auf die anderen herab
wie von einer
fernen Heimat.
So konnte ich
überleben.

Renate Salzbrenner


Am Ende meines Weges ist ein tiefes Tal.
Ich werde nicht weiterwissen
Ich werde mich niedersetzen und verzweifelt sein
Eine Wolke wird über den Himmel ziehen,
und ich werde eine Wolke sein wollen.

Ich werde mich selbst vergessen.
Dann wird mein Herz leicht werden
wie eine Feder,
zart wie eine Margarite,
durchsichtig wie der Himmel.

Und wenn ich dann aufblicke,
wird das Tal nur ein kleiner Sprung sein

zwis
chen Zeit und Ewigkeit.

Indianische Weisheit


Irish sky

Auf die Frage, wohin die Seele gehe, wenn der Mensch stirbt, antwortete der mittelalterliche Mystiker Meister Eckhardt: "An keinen Ort. Wohin sonst könnte die Seele auch gehen, wo sonst wäre die ewige Welt... sie kann nirgendwo anders sein als hier... Die Seele des Verstorbenen geht nirgendwo hin, die Toten sind hier bei uns, in der Luft, durch die  wir uns ununterbrochen bewegen..."

Stairway to heaven....

Jakobsleiter

 

6. Dezember 2004

Geliebter Florian,
leise wehen Musikfetzen des Weihnachtsoratoriums zu mir hinauf in Dein Zimmer.
Geflüchtet bin ich hierher, hoffend, es würde mein schweres Herz in dieser größeren Nähe zu Dir etwas leichter. Ich entzünde Kerzen, stehe vor Deinen Fotos und bin voller Fassungslosigkeit: Es ist Nikolaus, Weihnachten steht vor der Tür – das fünfte Weihnachten ohne Dich... und es ist mir, als sei es das erste.

„Oh Heiland, reiß die Himmel auf
Herab, herab vom Himmel lauf....
Reiß ab vom Himmel Tür und Tor
Reiß ab, wo Schloß und Riegel vor...“


Ich erinnere mich, wie ich dies als Kind sang. Die Erinnerungen an die Zeit meiner eigenen Kindheit kommen in diesen Tagen näher... nur  haben Lieder wie dieses ein ganz neue, eine viel tiefere Bedeutung. „Stairway to heaven“... Die Himmelstreppe, ich habe dieses Bild von Jakob und dem Text aus der Genesis als Weihnachtskarte gewählt… Eigentlich hat es mit Weihnachten nicht sehr viel zu tun.... nur: Dieses Bild, dieser Wunsch, dieser alles umschließende, unbändige Wunsch,  Du mögest die Treppe, die Du am 1. Juli 2000 gen Himmel stiegst, wieder herabkommen, treibt mich durch diese Tage... Unruhe, Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und manchmal eine tiefe Dunkelheit in mir... „Oh Heiland, reiß die Himmel auf“.
Ich lebe in der Vergangenheit und versuche, meine  Gegenwart und meine Zukunft zu meistern. Es ist ein paradoxes Leben, in das mich Dein Tod geworfen hat, Florian.
Nie entferne ich mich von Dir – immer suche ich innerlich die Nähe. Es bleibt meine Natur, Mutter zu sein, ich bin und bleibe Deine Beschützerin  - egal ob Du lebst oder gestorben bist..Deinen Verlust genau zu erspüren, es ist das was mir bleibt.

"Das Leben ist für die Lebenden" schließt eines meiner kleinen Büchlein. Aber was für ein Leben, Florian?
Ich schaue vor mir auf dem Tisch auf ein Foto, das Mirjam zu Deinem Geburtstag mitgebracht hat. Dieses Foto ist für mich so bedeutungsvoll geworden... Es ist fast wie ein Sinnbild für das was geschah:

Florian und Mirjam

Auf diesem Foto, das im Hof des farm house aufgenommen wurde, läufst Du vor einem Mädchen,  das mit einem Wassereimer hinter Dir her ist, weg. Diese Bewegung des Davonlaufens, diese Bildeinteilung – Du läufst auch beinahe aus diesem Foto... ist so bewegend...Deine Körperhaltung, Dein völlig gelöstes lachendes Gesicht, Deine angewinkelten Arme, das flatternde Hemd, Du läufst davon Florian.... und Du bist glücklich!
Wenn ich doch nur glauben könnte, dass Du diese Welt so verlassen hast – glücklich, im Einklang mit Dir und allem um Dich herum... es wäre ein wenig Trost in einer Zeit wie dieser.

Weihnachten. Das fünfte ohne Dich und ich habe doch noch nicht einmal Deinen Tod verstanden... :...."Deinen Tod habe ich eigentlich nicht begriffen- wo gingst Du hin? Meine Liebe ist auf der Suche nach dir. Der Unendlichkeit deines Daseins bin ich mir sicher" schreibt Salzbrenner. Unsere Herzen,  die vielleicht weiser als wir sind, sind  sich der  Unendlichkeit Deines Daseins sicher. Die Liebe reicht über den Tod hinaus." Die Brücke zwischen uns ist die Liebe, das Einzig-Bleibende, der einzige Sinn."

Ich schaue zurück, mein Florian auf ein weiteres Jahr und vor mir liegt ein neues. Dieses Wissen darum, dass all die Jahre, die folgen, Jahre ohne Dich sein werden, lassen mich den Blick nach vorn verschließen. „Ich lebe im Hier und im Jetzt“ – Du warst es, der dies immer wieder sagte, wenn ich Dich auf die Zukunft hinwies. Ja, Du hast gelebt, im Hier und wie froh bin ich heute dass es so war... Nichts hast Du in die Zukunft verlagert, alles geschah im Jetzt. So zu leben ist  das, was wir nun tun... Von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde.

Ich suche nach Texten über Engel und fand einen berührenden Text:

Der Engel begleitet den Menschen nicht nur, er verbindet sich mit dem Menschen, der zu ihm gehört in jeder Weise. Jede große und kleine, helle und dunkle Stunde lebt er unser Leben mit, ein Bewusstsein darüber bildend, bewahrend und verbindend mit seiner Fähigkeit zur Überschau über unseren ganzen weiten Werdegang und über unsere zukünftigen Möglichkeiten. Er kennt unsere Aufgaben, Hoffnungen und Hindernisse. Aus diesem umfassenden Überblick trägt er nicht nur Sorge um die richtigen Schicksalswege und Begegnungen, sondern auch für das richtige Maß dessen, was uns wiederfährt. Selbstverständlich wird auch vieles von uns Menschen selbst beigesteuert.
Wenn wir nun von unseren Engeln immer begleitet werden, und unser Schicksal sozusagen schon vorausbestimmt ist, kommt da nicht die Frage auf - wenn uns zum Beispiel eine Krankheit oder ein schwerer Schicksalsschlag widerfährt: "Womit habe ich das verdient?" oder: "Was habe ich getan, daß mir das passiert?".
Experten meinen dazu, daß wir vor unserer Geburt zusammen mit unserem Engel unser Schicksal beschließen. Das, was wir auf der Erde erleben oder sogar erleben müssen. In dem Augenblick wo man sein Schicksal erkennt, befreit man sich auch von ihm. Man wird sozusagen Meister seines Schicksals...“

Kennst Du meinen Weg, Florian? Weißt Du, was vor mir liegt?
Es gibt Augenblicke, in denen ich mir wünsche, es möge kein langer Weg mehr sein, den ich gehen muß, zu müde bin ich vom bereits zurückgelegten... und dann sind da Momente, in denen ich eine neue Kraft spüre, Aufgaben sehe, die vor mir liegen könnten – und dann wird auch die Last Deines Todes ein wenig leichter.

Dass Du uns  beschützt, daran glaube ich fest. Dass Du Deine Engelsschwingen über uns und unsere Liebe gelegt hast – dessen bin ich mir sicher. Dass wir unser Leben im Gedenken an Dich weiterleben werden, im kommenden Jahr und in den Jahren, die uns noch gegeben sind, das wünsche ich mir.

Der Engel

Der Engel in dir
Freut sich über dein Licht,
weint über deine Finsternis.
Aus seinen Flügeln rauschen
Liebesworte, Gedichte,
Liebkosungen.
Er bewacht deinen Weg,
lenkt deinen Schritt -
engelwärts

Rose Ausländer


Ich denke an Dich, an meinen kleinen Sohn, daran wie ich Dir kleine Freuden zum Nikolaus bereitet habe... Deine Stiefel vor der Tür... und später, als  ich Dir Deinen Nikolaus schon im Sommer über Astrid geschickt habe... Sie musste mir versprechen, ihn am 6. Dezember an Deine Tür zu hängen... Ach Florian, wo sind sie geblieben, diese leichten, frohen Jahre?

Schwer trage ich an Deinem Verlust.

Draußen ist es dunkel geworden. Im Garten hängen die kleinen Lichter in den Bäumen, wie in jedem Jahr – und vielleicht haben diese Rituale etwas tröstliches.. In Deinem Baum hängt ein goldener Stern. Bald wird der Schnee auf seinen dünnen Ästen liegen und dann beginnt ein neues Jahr...Die Jahreswechsel bleiben bedeutungslos – unser Jahr FÜNF hat bereits vor Monaten begonnen.....

Bleibe bei uns Florian in diesen dunklen Tagen und zünde Du kleine Lichter in uns an.
Wir leuchten Dir mit unseren vielen Lichtern den Weg zu unseren Herzen.

Wir lieben und vermissen Dich – unendlich

Deine Mom

 

Auf dem Weg von vorgestern nach übermorgen
Lagere ich unter einem Baum
In seinem Schatten
Für einen Bruchteil meines Lebens
In Gedanken an den Weg, an das Ziel
Die zurückgelegte Stecke
An all das, was am Wegrand blüht
Nicht geraubt werden darf
Aber bewundert
Nicht missbraucht
Aber geliebt
Nicht entführt
Aber in Erinnerung bleiben wird.
Auf dem Weg von vorgestern nach übermorgen
Lagere ich unter meinem Lebensbaum
In seinem Schatten
Für einen Bruchteil meiner Zeit.

Margot Bickel

Wir haben Florian’s „Little Garden“ verändert. Plötzlich war der Wunsch in mir, diesen Ort der Ruhe und der Stille zu verwandeln... Ein irischer Garten sollte es werden, Wasser das Segel umspannen ... Nun ist es sein „Grab“ geworden....Eine große Veränderung im Jahr Fünf. Noch immer bin ich fast täglich dort... und immer brennt ein Licht!

 

Florians Grab

Florians Baum im Garten

Florians Baum im Garten

Du hast Gott beigestanden wie ein Wald alter Buchen
Und ihm ein menschliches Gesicht in der Welt verliehen.
Manchmal warst Du durchsichtig,
damit das hinter dir sichtbar werden konnte,
aus dem Du lebtest –
die Gräser, der Wald, die sinkende Sonne,
der Kelch einer Blume, das unbeschreibliche Licht,
aus dem das Gewebe Deiner Seele, Deines Geistes
und Deines Körpers gemacht war.
Und manchmal warst Du so deutlich zu sehen,
dass niemand an Dir vorbeikam,
ohne Dich wahrzunehmen.
Du warst ein aufragender Fels
im wilden Bett eines Flusses.
Dabei hast Du gelernt an Dich zu glauben,
wie Gott an Dich glaubt.

Du hast Gott beigestanden, hier auf der Erde,
damit er nicht allein war in seiner Liebe zur Welt.
So wird er Dir jetzt beistehen, als warme Decke aus Schafswolle,
als Musik, die das Herz erwärmt,
als gute Macht, die Dich wunderbar birgt,
als weg, der sich im Gehen entfaltet,
als alter Freund,
mit dem Du die Welt ein wenig verändert hast.

Nur wir hier fühlen uns zurückgelassen.
Und frieren ..... ohne Dich.
Deine Wärme fehlt uns, deine sanfte Hand, Dein viel sagendes Lächeln,
Dein Blick aus dem Anderswo,
Deine Erkenntnis, dass uns nicht rettet als die Liebe.
Aber wir tragen Dich in uns,
bis wir Dich wieder treffen.


Aus „Erinnerungen an Michael“ von Ulrich Schaffer

 

Allen Menschen, die mein Leben in Trauer um Florian oft seit Jahren „in der Stille „ begleiten, möchte ich an dieser Stelle meinen tiefen Dank aussprechen.
Ich blättere in unzähligen Briefen, die mich erreichen – jeder einzelne ist ein riesiges Geschenk – das ich wie einen Schatz hüte. Jeder Brief wird ausgedruckt und in Momenten wie diesem halte ich ihn in Händen und lese Zeilen der Anteilnahme, des Respekts, der Achtung, der Bewunderung und vor allem – der Liebe und Verbundenheit. Sie alle kennen mich nicht, viele von Ihnen waren auf der Suche im Internet und „landeten zufällig“ auf der Gedenkseite für Florian. Sie kannten Florian nicht und doch schenken Sie uns Ihre Zeit, finden Sie Worte, die mein Herz ganz tief berühren, die mir Mut machen und Kraft geben, dieses Leben fortzusetzen – es als ein Geschenk zu betrachten. Nie hat mich ein „schlechter“ Gedanke erreicht, niemals! Ich wünsche Ihnen, dass das, was unsere Welt im Innersten zusammenhält, Sie auf Ihrem Weg weiterträgt und Sie behütet.

 

Zweierlei Leben

Die erkämpften
und erlittenen Erfahrungen
sind der Schatz,
den wir mit anderen
teilen dürfen.
Ich glaube
jenen Menschen lieber,
die viel ringen müssen
und ihr Leben
trotzdem bewältigen,
als jenen,
die von Erfolg zu Erfolg
eilen
und das Scheitern
nur vom Hörensagen kennen.

Selig die Verwundeten,
die nicht verbittert sind!
Sie werden die Verletzten verstehen
und ihnen helfen können.

Martin Gutl

Mein ganz besonderer Dank geht heute an die lieben Menschen, die in den letzten Jahren und Monaten FREUNDE geworden sind, ohne die ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen kann. Sie alle waren „Fremde“ als sie mir zum ersten Mal schrieben und es entwickelten sich tiefe, innige Beziehungen, überall in der Welt! Die gemeinsame Trauer überspannt diesen Globus und das Wissen um das gemeinsame Leid verbindet tief und manchmal ist es wirklich „geteiltes Leid“.

Euch danke ich für Eure Liebe, Eure Treue und Verbundenheit. Euch danke ich für Eure Geduld und Großherzigkeit. Ihr habt mich durch die Tiefen des vergangenen Jahres getragen, mit Euch teilte ich kleine „Höhenflüge“, wenn Florian  Wind unter meine Flügeln blies...  Eure Begleitung, Eure  Worte sind mir wichtig wie das tägliche Brot und sie sind der Reichtum dieses um so vieles ärmeren Lebens.  Euch allen widme ich den folgenden Irischen Segen:

Ich lebe mit Träumen

Vergiss die Träume nicht,
wenn die Nacht
wieder über dich hereinbricht
und die Dunkelheit
dich wieder gefangen zu nehmen droht.
Noch ist nicht alles verloren.
Deine Träume und deine Sehnsüchte
tragen Bilder der Hoffnung in sich.
Deine Seele weiß,
dass in der Tiefe Heilung schlummert
und bald in dir
ein neuer Tag erwacht.