Eine Wolke weiß nicht, warum sie sich in einer gewissen Richtung und mit genau dieser Geschwindigkeit bewegt. Sie spürt einen inneren Drang und weiß, wo der richtige Ort liegt. Aber der Himmel kennt den Grund und das Muster, dem alle Wolken folgen. Und auch du wirst das erfahren wenn du dich hoch genug in die Lüfte erhebst um hinter den Horizont zu blicken

aus: “Illusionen” von Richard Bach



"...In jener Nacht, in den darauf folgenden Tagen streifte ich Schichten meines Selbst ab, wie eine Schlange ihre Haut abstreift. Unaufhörlich trat ich aus mir selbst heraus und kehrte wieder in mich selbst zurück, beobachtete mein Tun wie von weiter Ferne und tauchte erneut in meinen Körper und in meine qualvolle Angst ein. Nun erlebte ich, wie sich ein Teil von mir abspaltete und die Initiative ergriff..:"

Kuki Gallmann





Du bist nicht tot, Du bist nur vorausgegangen...

Florian Gérard
17.10.1976 – 1.7.2000


Kurz vor Mitternacht erreichte mich in Berlin der Anruf aus Dublin; der Anruf, der mein bisheriges Leben innerhalb von Sekunden enden ließ, der mich in eine neue Umlaufbahn schleuderte und nichts jemals wieder so sein lies, wie es einmal war. Es waren diese unerträglich grausamen drei Worte: Florian ist tot!
Noch immer kann ich diesen Satz nicht aussprechen, stockt meine Hand, wenn ich ihn schreibe. "Nein, nicht Florian, nicht ich, nicht wir beide.....bitte nicht!"
Mit dieser Nachricht, mit Florians Tod starb ich meinen eigenen Tod – im Leben.

Als man mir am 1. Juli sagte, Du seiest die Treppe herabgestürzt und hättest Dir das Genick gebrochen, wusste ich, dass es nicht stimmen kann. Nein, Du fällst keine Treppe herab, Du nicht! Du warst nicht tolpatschig, Du warst umsichtig. Ich habe es gehört, aber ich habe es nicht geglaubt! Es war fast wie eine Erlösung, als man diese Todesursache nach wenigen Tagen ausschloss und sich darauf verständigte, dass Dein Herz auf jener Treppe stehengeblieben ist -
Sudden Adult Death Syndrome. Nichts kann es erklären. Es ist wohl der schicksalhafteste Tod, den es gibt und zugleich der sanfteste!

 

29.7.2000

Liebster Florian, geliebter Sohn,

wie schreibt man Briefe an seinen toten Sohn? Wohin, Florian, soll ich diese Briefe richten? Ich schreibe, weil ich eine Verbindung zu Dir brauche, sonst ersticke ich.
Ich schreibe Dir, weil ich Dir schreiben muß. Was sonst soll ich tun, als Dir zu schreiben?

Seit 29 Tagen bist Du tot! Ich schreibe diese drei Buchstaben, ohne sie zu begreifen.
Ich verstehe nicht, was geschah, ich will und kann es nicht verstehen. Diese Buchstaben
lösen Chaos in mir aus, Florian. Du kannst nicht tot sein. Du bist mein Sohn, mein einziges Kind. Ich kann Dich nicht verlieren. Es darf einfach nicht geschehen sein.

Seit 29 Tagen suche ich nach einer Form der Normalität die  nicht mehr da ist. Vor mir liegen Scherben, sinnlos gewordene Bruchstücke eines Lebens. Wofür morgens aufwachen?
Ich würde mich gerne betäuben, ich möchte fliehen, ich möchte bei Dir sein, Florian.
Aber ich habe Dir versprochen, was ich mein Schicksal nenne, zu tragen– ohne den Sinn verstehen zu können.  Leben mit der Abwesenheit von Sinn - wie, mein Sohn, soll dies gehen?

Du warst mein Leben, Teil von mir selbst. – „I AM YOU“, war der erste Satz, den ich nach der entsetzlichen Nachricht träumte....Bist Du zurückgekehrt zum Ursprung unserer beider Leben? Du warst mir so viel, Florian: Du gabst meinem Leben als Mutter einen ganz besonderen Sinn und Inhalt, für Dich musste ich sorgen, für Dich musste ich da sein, Du hast mich gebraucht. Ich weiß nicht mehr wer ich  bin.... Bin ich noch Mutter?

Mit Dir konnte ich noch einmal zurück wandern durch mein eigenes Leben, habe Kindheit und Jugend gespürt, Dich begleitet durch alle Phasen, durch Höhen und durch Tiefen. Du warst mir Inspiration, wie Du mir manchmal auch Kummer und sogar Wut und Verzweiflung warst. Mit Dir habe ich gelacht, geweint, gestritten, getanzt, philosophiert, wir haben Lebensplanungen entworfen, Visionen für Dich und für mich. Wir waren Mutter und Sohn, im besten Sinne - gemeinsam und jeder für sich, wir waren uns so nah, wie Mutter und Sohn sich nah sein können. Und weil dies so war, konnte ich Dich eines Tages ziehen lassen, Dir Flügel verleihen, wissend, dass das Band zwischen uns fest und undurchtrennbar ist.

In der Ferne bliebst Du mir verbunden, ich habe so viele Tränen um Dich geweint, Dich schmerzlich vermisst, nie aber habe ich versucht, Dich zurückzuholen. Ich habe gespürt, wie gut und wie frei Dein Leben war, dort in Irland, diesem Land, dem ich Dich anvertrauen konnte. Ich spürte, wie sehr Du an den Aufgaben wachsen durftest und wolltest, die dies völlig neue Leben dort an Dich stellte und wie gut Deine  Entwicklung verlief.

Wir haben uns geschrieben, viel am Telefon gesprochen und eigentlich hast Du niemals aufgehört hier mit uns zu leben. Du warst  unser Sohn in Irland geworden, ja, so sprachen wir von Dir und jeder hörte den Stolz, der aus unserer Stimme sprach.

Du hast uns neue Welten eröffnet, irische Musik, irische Literatur, Du brachtest uns die Menschen nah und Du brachtest uns Eimear,  „your little princess“, Deine irische Prinzessin, die wir fest in unser Herz geschlossen haben.
Hunderte Male haben wir über Euch gesprochen, Eure Zukunft vor unseren Augen gesehen. Es gab in Gedanken bereits rothaarige irische Enkelkinder, lauter Mädchen, ein glückliches Leben auf dem Land, ein Haus mit vielen Vorhängen und dicken Teppichen.

Als Ihr beide jetzt hier bei uns wart, in diesen letzten glücklichen Tagen dieses Lebens, sprachen wir über Eure Hochzeit; als Ihr zurück wart, habt Ihr über Euren Tod gesprochen.
Hattest Du eine Ahnung, mein Kind? Eine ganz ferne, unbewusste Ahnung über das Kommende?

Musstest Du so leben, so schnell reifen, mein Florian, weil Dir nur so wenig Zeit blieb?
Musste unsere Beziehung so eng sein, weil wir nur 23 Jahre zur Verfügung hatten?

Wenn alles so ist, was hatte dies Schicksal dann für mich vorgesehen? Wie soll ich ein Leben leben, mit Deiner Abwesenheit, Deiner ewigen Abwesenheit?
Wer und was soll die Leere füllen, wie  soll ich diesen Schmerz aushalten, den ich beginne, in seinem Ausmaß zu spüren. Ganz langsam erst beginne ich die Tragweite zu begreifen, die Dimension... ganz langsam nur, Florian!

Ich stehe noch unter Schock, mein Sohn, ich fühle mich noch immer abgeschnitten von mir selbst... Ich agiere wie eine Marionette, funktioniere,  bin nicht ich selbst. Ich spüre mich nicht mehr, mein Herz weigert sich anzunehmen, was mein Kopf ihm sagt. Gibt es mich denn überhaupt noch? Ich suche noch nach der ersten Stufe der Treppe in eine Realität, die zu betreten ich unendliche Angst habe... so halte ich mich fest am Gefühl des Irrealen. Du kannst nicht wirklich tot sein. Irgend jemand oder irgend etwas wird mich erlösen und befreien und Du wirst zurückkehren und alles ist nur ein Spuk, ein böser, fürchterlicher Traum...
Lass es so sein, Florian, lass es doch bitte so sein.... komm‘ zurück, komm schnell zurück zu uns!

Deine Mom
verzweifelt, zerstört, verstört, ohne Leben in sich, vielleicht bin ich mit Dir gestorben, weiß es nur noch nicht